Artikel: Ich kann „Integration“ nicht mehr hören

Ein kritischer Blick auf die Integrationskonzepte innerhalb der EU. Von Corinna Milborn. HIN UND HER, Sonderausgabe zum Thema Integration. Juli 2007.

Eigentlich kann ich das Wort “Integration” ja nicht mehr hören. Es tut mir weh. Und das liegt an meinem Gehirn. Denn immer, wenn es “Integration” hört, ergänzt es automatisch mit Stammtischsprüchen: “Die sollen sich gefälligst integrieren.” Und: “Die wollen sich doch gar nicht integrieren.” Nach einer Pause kommt dann noch: “Wenn’s ihnen hiernicht passt, dann sollen sie wieder heimgehen.” Diese unwillkürlichen Assoziationen sind deshalb so schmerzhaft, weil es nicht nur Stammtischsprüche sind – sondern ein Spiegel der europäischen Integrationspolitik.
Europa ist seit 50 Jahren ein Einwanderungskontinent, die Gesellschaft schon lange gemischt, zusammengesetzt aus Menschen verschiedenster Herkunft, Religion, Hautfarbe. Doch die große Aufgabe, daraus ein großes Ganzes mit einer gemeinsamen Basis zu machen, hängt man den Einwanderern um, und während sie sich an den geschlossenen Türen und unsichtbaren Barrieren abmühen und selbst in vierter Generation noch nicht “dazugehören”, steht die Mehrheitsgesellschaft im besten Fall mit verschränkten Armen daneben und sieht zu. Meist sieht sie aber einfach weg.
Und zwar in allen drei europäischen Integrationsmodellen.
Da wäre erstens der Multikulturalismus in Großbritannien und in den Niederlanden, in dem Traditionen und Kulturen respektiert und die Bildung von Minderheiten gefördert wird. Das sieht auf den ersten Blick sehr bunt und friedlich aus, führte aber dazu, dass selbst junge Briten und Niederländer, deren Urgroßeltern eingewandert waren, mit einem Stempel als “Marokkaner” oder “Pakistanis” durchs Leben gingen, auch wenn sie in diesen Ländern noch nie waren. In Verbindung mit dem verbreiteteten Rassismus ist das fatal: Wer in eine Zuwandererfamilie geboren wird, ist im Multikulturalismus unentrinnbar Teil einer diskriminierten Gruppe. Das führt zum Ausschluss aus der Gesellschaft und zur Bildung von Ghettos, in denen eigene Regeln gelten, oft zum Nachteil von Frauen. Die Regierungen konnten sich im Namen der Toleranz bequem zurücklehnen und sahen der Spaltung der Gesellschaft gelassen zu. Der Glaube an Multikulturalismus ging erst mit zwei Attentaten unter, begangen von jungen Männern, die in Europa aufgewachsen waren: Das Attentat auf den Filmemacher Theo van Gogh 2004 und die Bomben von London 2005.
Frankreich verfolgt mit dem Modell der Assimilation genau das gegenteilige Modell: Assimilation, Gleichheit ohne Rücksicht auf Hautfarbe, Herkunft, Religion. Jeder, der in Frankreich geboren wird, bekommt spätestens mit dem 18. Geburtstag die Staats- bürgerschaft. Nun sind aber gerade die Franzosen mit ihrer Kolonialgeschichte vor Rassismus nicht gefeit, was das Modell völlig scheitern lässt: In keinen Land ist der Ausschluss der zweiten und dritten Generation aus der Gesellschaft so deutlich, die Unter- schiede in der Arbeitslosigkeit so groß, der Weg nach oben so wirkungsvoll versperrt wie in Frankreich. Die Diskrepanz zwischen dem Versprechen der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und der Realität des Ausschlusses führt zu jener Wut, die in den französischen Vorstädten zu einem Schnitt von hundert brennenden Autos pro Nacht führt.
Das dritte Modell, verfolgt von Deutschland und Österreich, ist das Gastarbeitermodell. In diesem Modell wurde den Zuwanderern gar nicht erst versprochen, dass man sie in die Gesellschaft aufnehmen würde: Sie waren dezidiert nur zum Arbeiten im Land und sollten so schnell wie möglich wieder weg. Es kam natürlich anders, die Gastarbeiter blieben und holten ihre Familien nach. Doch bis heute haben in Österreich und Deutschland erstaunlich viele Kinder von Zuwanderern, die hier geboren sind, keine Staatsbürgerschaft und damit keine Bürgerrechte. Das Gastarbeitermodell war zwar erfolgreich darin, Radikalisierungen gar nicht erst aufkommen zu lassen: Wem man nichts verspricht, der fordert es auch nicht so vehement ein.
Aber es verhindert, dass Zuwanderer sich in die Gesellschaft einbringen – und fördert damit “Parallelgesellschaften”.
Integration scheitert in Europa also an drei Grundübeln: Erstens dem tiefsitzenden Rassismus. Zweitens der – völlig falschen – Überzeugung, die europäische Gesellschaft sei ein homogenes Gebilde weißer Hautfarbe und christlicher Religion, in denen alle anderen höchstens als Gäste geduldet werden. Und drittens der Verknüpfung von “Integration” mit der Forderung, “europäische Kultur” anzunehmen.
Welche ist da nun aber gemeint? Was haben Opernbesucher in Paris mit Berliner Punks zu tun, was verbindet kulturell gesehen einen sizilianischen Bauern mit einem britischen Banker? Die übliche Antwort darauf ist: “Europäische Werte.” Und auch wenn man über die trefflich streiten kann, einigt man sich meist auf die drei Grundwerte, die auf die europäische Aufklärung zurückgehen: Freiheit, Gleichheit und soziale Solidarität. Sie sind die Basis der europäischen Gesellschaft.
Doch genau diese Grundwerte werden immer dann mit Füßen getreten, wenn es um die geht, von denen man Anpassung daran verlangt: Zuwanderer und ihre Nachkommen. Sie büßen, wenn sie den falschen Pass haben, wegen geringster Verwaltungsübertretungen ihre Freiheit ein und können deportiert werden. Sie haben mangels Staatsbürgerschaft oft keine Bürgerrechte, und selbst als Staatsbürger keine gleichen Chancen am Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Trotz des Grundprinzips Religionsfreiheit müssen sie sich mit einem Mob aus Stammtisch und empörten Lokalpolitikern herumschlagen, wenn sie
eine Moschee bauen wollen. Und mit dem System der Illegalisierung von Einwanderern, die hier als Arbeiter geduldet werden, hat sich gar eine neue Form von Leibeigenschaft gebildet. Wir sprechen hier nicht von ein paar tausend Touristen oder dem einen oder anderen Schwarzarbeiter, sondern von einem beachtlichen Teil der Europäischen Bevölkerung: Fünfzehn Millionen
illegale Migranten arbeiten in Europa. Zwischen fünf und zehn Prozent der legalen Einwohner sind – je nach Land – Ausländer, viele davon in Europa geboren. Und noch viel mehr werden trotz Staatsbürgerschaft als Fremde behandelt. Für sie alle gelten genau diese Werte nicht, die zu respektieren man von ihnen fordert. Europäische Integrationspolitik ist derzeit also zum Scheitern verurteilt, und das rührt an die Grundfesten der europäischen Gesellschaft. Es wird Eingliederung erwartet, ohne Bürgerrechte zuzugestehen. Und es wird kulturelle Anpassung verlangt, ohne zu definieren, woran man sich denn nun anpassen
sollte. Während andere Einwanderungsländer klare Regeln haben, nach denen sich Zuwanderer richten können, sorgt das diffuse europäische Verständnis von “kultureller Integration” für geschlossene Türen und unsichtbare Barrieren: Integration in Europa ist wie der Beitritt zu einem Traditions-Club, in dem starre, geheime Regeln gelten, die man selbst nach Generationen nicht durchschauen kann.
Ich will deshalb das Wort “Integration” gar nicht mehr hören. Wir sollten es ablegen und stattdessen von Dingen sprechen, die klarer und wichtiger sind: Von Bürgerrechten für alle, die hier leben, von Antidiskriminierung und Chancengleichheit. Von Partizipation statt Integration, Gleichheit statt Minderheitendiskussionen, Europäer statt “Menschen mit Migrations- hintergrund”. Es wäre höchste Zeit.