Entführt, verhaftet, angeklagt

Lydia Cacho Ribeiro schreibt in Mexiko gegen Kinderpornografie und Korruption an – und setzt dafür ihr Leben aufs Spiel. Ein Porträt für den STANDARD:

„Die Behörden haben tadellos gearbeitet“: Dieser Stehsatz ist nach Kinderporno-Skandalen, Missbrauchsfällen und Vergewaltigungen auch in Mexiko beliebt. Lydia Cacho Ribeira (43), Preisträgerin des Unesco-Preises für Pressefreiheit 2008, hat ihn nie geglaubt – wie viele. Aber als eine der wenigen hat sie es nicht dabei belassen – und nachgebohrt. Seit sie im Jahr 2003 einen Kinderporno-Skandal in ihrer Heimatstadt, dem Badeort Cancún, aufgedeckt hat, hat sich ihr Leben in eine Hölle verwandelt: Sie wurde entführt, verhaftet, der üblen Nachrede angeklagt und verlor einen Prozess gegen die involvierten Politiker vor dem Obersten Gerichtshof. Sie lebt mit ständigen Morddrohungen gegen sich und ihre Familie.

Nie aufgehört zu schreiben

Aufgehört zu schreiben und aufzutreten hat sie jedoch keinen Tag lang. „Sie wollten sie zum Schweigen bringen, aber sie haben das Gegenteil erreicht“, schreibt ein Kollege in der Tageszeitung Universal. „Ihr konntet mich nicht zerstören“, schreibt sie selbst trotzig und stolz. Lydia Cacho glaubt an die Macht der Öffentlichkeit. „Dieser Preis kann mich wohl nicht vor Morddrohungen oder dem Tod selbst schützen. Aber er hilft sicherlich, mein geschriebenes Werk zu schützen und einer breiten Öffentlichkeit die Auswirkungen von Menschenhandel und Kinderpornographie näherzubringen“, begann sie ihre Dankesrede bei der Preisverleihung am 3. Mai in Mozambique.

Lydia Cacho hat ihr soziales Engagement von der Mutter, einer deklarierten Feministin, die sie schon als Kind in die Elendsviertel von Mexiko-Stadt mitnahm. „Wenn du Zeugin von etwas wirst, dann hast du Verantwortung dafür übernommen“, schärft die Psychologin ihrer Tochter ein. Mit Mitte 20 übersiedelt Cacho in die Tourismus-Metropole Cancún, wo sie eigentlich beschaulich malen und Romane schreiben wollte. Doch sie kann den Blick hinter die Fassade nicht vermeiden. Sie schreibt in Lokalzeitungen über AnwohnerInnen, die für Hotelprojekte vertrieben wurden und deren Kinder an Hunger sterben. Sie erzählt die Geschichten der Prostituierten im Nobel-Badeort, schreibt über Aids. Der Gouverneur interveniert und sagt: „Es gibt kein Aids in meiner Provinz.“ „In meiner schon“, antwortet sie trotzig und schreibt weiter gegen Korruption und Gewalt an. Ihre KollegInnen verstehen nicht, warum sie sich öffentlich gegen die Machthaber stellt. „JournalistInnen sind leider leicht zu kaufen in meinem Land“, sagt Cacho.

Cacho bekommt Polizeischutz

1998, nach mehreren Drohungen, wird Cacho an einer Bushaltestelle niedergeschlagen und vergewaltigt. Ob der Überfall mit ihrer Arbeit zu tun hatte, weiß sie bis heute nicht – aber er schärfte ihr Bewusstsein für Gewalt gegen Frauen weiter. Neben ihrem Job baut Cacho ein Frauenhaus auf. „Ich habe mich jahrelang zwischen zwei Welten bewegt“, sagte Cacho bei der Preisverleihung in Mozambique: „Als feministische Aktivistin gegen Gewalt aufzutreten ist meine Art, Bürgerin zu sein, als Journalistin zu arbeiten ist mein Beruf.“ Cacho gibt keine von beiden Welten auf und beginnt, über Kinderpornografie zu recherchieren. 2005 erscheint ihr Buch Los Demonios del Eden, in dem sie anhand der Aussagen von Opfern einen Kinderporno-Ring in ihrer Heimatstadt aufdeckt und Namen involvierter Geschäftsleute nennt. Die Drohungen vervielfältigen sich, Cacho bekommt Polizeischutz.

Doch im Dezember 2005 wird sie am Weg zur Arbeit entführt – von der Polizei eines anderen Bundesstaates. „Pass auf, Journalisten sterben durch verirrte Kugeln“, sagt einer der zehn Beamten, die sie 20 Stunden lang im Auto in den Staat Puebla ins Gefängnis bringen. Sie erzählen von Plänen, sie zu vergewaltigen. Cacho weiß die ganze Zeit über nicht, ob es sich um Killer handelt. Doch die Polizei ist echt, Cacho wurde vom Geschäftsmann Kamel Nacif, der in ihrem Buch vorkommt, wegen übler Nachrede geklagt. Sie kommt ins Gefängnis, zahlt eine Strafe und kommt frei. Rechtmäßig war die Verhaftung nicht, so viel ist klar. Warum sie so entführt wurde, erfährt Cacho aber erst ein paar Monate später.

Im Februar 2006 werden einem Radio und einer Zeitung Tonbänder mit Mitschnitten von Telefongesprächen zugespielt. Darauf ist der Geschäftsmann Kamel Nacif im trauten Gespräch mit dem Gouverneur des Bundesstaates Puebla, Mario Marin, zu hören. Es geht um Lydia Cacho. Kamel bedankt sich bei Marin dafür, die Verhaftung in die Wege geleitet zu haben, und will dafür ein paar Flaschen Cognac schicken. Er erzählt, dass er drei Insassen des Gefängnisses dafür gezahlt habe, Cacho in der Haft zu vergewaltigen und zu schlagen, um sie zum Schweigen zu bringen.

Cacho erstattet Anzeige gegen den Gouverneur

Doch wenn hohe Politiker involviert sind, mahlen die Mühlen der Justiz besonders langsam. Bis zu den ersten Vernehmungen vergehen Monate. Cacho verliert fast alle Zeugen im Staat Puebla – vielen wurde gedroht, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren würden, wenn sie aussagen. Die Orte, an denen sie festgehalten wurde, werden nachträglich verändert, um ihre Aussagen in Zweifel zu ziehen. Während Tausende zur Unterstützung von Lydia Cacho demonstrieren, startet eine Diffamierungskampagne gegen die Journalistin. „Es ist ein außergewöhnliches Beispiel für Korruption und Machtmissbrauch, aber vor allem für die Frechheit, mit der sie es tun“, sagt Cacho. Am 29. November 2007 entscheidet der Oberste Gerichtshof, dass die Anklage gegen Gouverneur Mario Marin fallengelassen wird. Der Menschenrechtsrat der UNO empfiehlt Lydia Cacho, das Land zu verlassen und um politisches Asyl anzusuchen.

Cacho bleibt – und schreibt

Doch Cacho bleibt – und schreibt. Noch vor ihrer Entführung hatte sie sich den nächsten Skandal vorgenommen, der sich bis in höchste Justiz-, Polizei- und Politikkreise zieht: die Morde an Hunderten von Frauen rund um die Ciudad Juarez, deren Opfer verstümmelt auftauchen oder verschwinden. Dann widmet sie sich ihrem nächsten Buch: Der Erzählung des Falles Cacho. In Memoria de una Infamia – Erinnerung an eine Infamie – arbeitet sie die Geschehnisse seit der Aufdeckung des Kinderpornoringes auf.

Im April, kurz bevor Cacho den Preis für Pressefreiheit bekam, sollte ihr Buch in Puebla vorgestellt werden. Mario Marin, den sie angeklagt hatte, ist dort immer noch Gouverneur. Das große Plakat, das die Buchpräsentation ankündigte, wurde nach wenigen Stunden von der Baupolizei entfernt und durch ein anderes ersetzt. Angestellte im öffentlichen Dienst bekamen Rundschreiben, die den Besuch der Buchpräsentation unter Androhung von Kündigung verboten – versehen mit dem Hinweis, dass Kameras installiert seien. Lydia Cacho wird mit dem Tod bedroht. Sie tritt trotzdem auf.

„Soll ich weiter Journalistin sein in einem Land, das von 300 mächtigen reichen Männern kontrolliert wird?“, fragte Cacho in Mozambique. „War es wert, mein Leben für meine Prinzipien zu riskieren? Die Antwort ist natürlich: ja. Wir Journalisten glauben, dass der Schock, der von unseren Geschichten ausgelöst ist, Menschen guten Willens zusammenbringen muss. Das ist einer der Gründe, warum wir weitermachen, gegen alle Widerstände. Wir kennen die Macht des Mitleids.“ (Corinna Milborn, DER STANDARD, Print, 10.5.2008)

Filmstart “Let’s make money”

Heute, 28. Oktober, ist im Wiener Gartenbaukino Welt-Uraufführung von Erwin Wagenhofers neuem Film “Let’s make money”, für den ich – als zuständige für die Recherche – monatelang mit dem Team um die Welt gefahren bin, immer dem Geld nach.Singapur, Indien, Ghana, Burkina Faso, Spanien, und natürlich die Schweiz.‘, ‚

Heute, 28. Oktober, ist im Wiener Gartenbaukino Welt-Uraufführungvon Erwin Wagenhofers neuem Film “Let’s make money”, für den ich – alszuständige für die Recherche – monatelang mit dem Team um die Weltgefahren bin, immer dem Geld nach.Singapur, Indien, Ghana, BurkinaFaso, Spanien, und natürlich die Schweiz.

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Moderation Club2 zur Finanzkrise mit Joseph Stiglitz

Ein Dutzend der wichtigsten amerikanischen Banken- und Finanzinstitute ist pleite gegangen oder musste de facto verstaatlicht werden. Den totalen Zusammenbruch der Finanzmärkte konnte die amerikanische Regierung möglicherweise nur durch Zuschuss von hunderten Milliarden Dollar verhindern. Dabei hatten gerade diese Finanzmultis in den letzten Jahren durch reine Börsenoperationen Milliardengewinne erzielt. Jetzt fordern alle strengere Regeln und Kontrollen für die Finanzmärkte, von der UNO über die EU bis hin zu den hiesigen Politikern.‘, ‚

Ein Dutzend der wichtigsten amerikanischen Banken- undFinanzinstitute ist pleite gegangen oder musste de facto verstaatlichtwerden. Den totalen Zusammenbruch der Finanzmärkte konnte dieamerikanische Regierung möglicherweise nur durch Zuschuss von hundertenMilliarden Dollar verhindern. Dabei hatten gerade diese Finanzmultis inden letzten Jahren durch reine Börsenoperationen Milliardengewinneerzielt. Jetzt fordern alle strengere Regeln und Kontrollen für dieFinanzmärkte, von der UNO über die EU bis hin zu den hiesigenPolitikern. Aber wer kann den offenbar außer Rand und Band geratenenRaubtierkapitalismus (Helmut Schmidt) wieder zivilisieren? Darüberdiskutieren im CLUB 2 unter der Leitung von Corinna Milborn:

Joseph E. Stiglitz, Nobelpreisträger und Globalisierungspezialist
Ferdinand Lacina, ehemaliger Finanzminister
Robert Halver, Marktanalyst der deutschen Baader Bank
Cornelia Staritz Ökonomin, Attac
Herbert Stepic, Vorstandsvorsitzender Raiffeisen International

Systemwechsel: Wie wir unseren Lebensstandard ohne Wachstum halten können

Der Aufschwung ist zaghaft, das Wachstum will nicht kommen. Aber geht es einfach auch ohne Wachstum? Experten sagen: Ja. Die Rezepte – von mehr Freizeit bis zu ­einem neuen Geldsystem.

„Wer an die Möglichkeit eines ständi­gen Wirtschaftswachstums glaubt, ist entweder ein Narr oder ein Ökonom“, donnert Manfred Max-Neef aus Chile, selbst Ökonom und Träger des Alternativen Nobelpreises, vom Podium. Zwischenapplaus unterbricht seine Rede. Wir befinden uns weder auf einem Ökokongress noch im besetzten Audimax einer Universität, sondern in einem Glaspalast auf der Wiener Donauplatte. Das applaudierende Publikum trägt Anzug und Krawatte, eingeladen hat die Wirtschaftskammer – genauer die Fachgruppe Unternehmensberater und IT. „Wir müssen uns schon heute überlegen, wie wir nach der Krise zu einem nachhaltigeren Wirtschaften kommen“, sagt deren Vorsitzender, Friedrich Kofler, der Max-Neef eingeflogen hat. Der Abend kratzt an einem Tabu. Er stellt den bestimmenden Faktor unseres Wirtschaftssys­tems infrage: das Wachstum. Das erscheint gerade in der Krise seltsam: Auch 2010 pumpen die Regierungen der Welt um die zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in Konjunktur­pakete, die Rettungspakete für die Bankenwelt haben bis September ein Ausmaß von 17 Billionen Dollar angenommen – mit nur einem Ziel: das Wachstum wieder anzukurbeln. Doch während die Politik wie ein Kaninchen vor der Schlange auf die neuen Aufschwungszahlen starrt und auf Zehntelprozentpunkte Zuwachs hofft, wird parallel intensiv an einem neuen Modell gearbeitet: an einer Gesellschaft, die ohne Wachstum auskommt – aber trotzdem nicht auf Wohlstand verzichten muss.

Alternativen zum BIP
Die Diskussionen darüber sind mittlerweile in den Zentren der Macht angelangt. Die EU-Kommission präsentierte im September ein Grundsatzpapier mit dem Titel „Jenseits des BIP“, das neue Arten vorschlägt, wie gesellschaftlicher Wohlstand zu messen sei: Waren in der (immer noch gültigen) Lissabon-Strategie noch drei Prozent Wirtschaftswachstum als höchstes Ziel angesetzt, sollen in der EU nach 2010 Umwelt und Lebensqualität denselben Status wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP) erhalten. „Wenn wir die Welt verändern wollen, müssen wir zunächst unsere Sichtweise von der Welt verändern, und hierfür müssen wir über das BIP als Maßstab hin­ausgehen“, erklärte Kommissar Stavros Dimas bei der Präsentation. In Frankreich hat Präsident Nicolas Sarkozy die Diskussion schon 2007 angestoßen und hochrangig angesetzt: Die Kommission, die Alternativen zum reinen BIP-Wachstum entwickelte, wird von gleich zwei Wirtschaftsnobelpreisträgern geleitet. Joseph Stiglitz und Amartya Sen geißeln im Abschlussbericht, den sie im September vorlegten, die Wachstumsgläubigkeit der Politik: Ein großer Teil der Wirtschaftskrise sei auf die Behandlung des BIP als Fetisch zurückzuführen. Sie schlagen neue Maßzahlen vor. „Was man misst, bestimmt, was man tut“, sagt Stiglitz. Und auch Englands Premier Gordon Brown lässt sich von der „Sustainable ­Development Commission“ erklären, wie Wohlstand ohne Wachstum funktionieren kann. Einfach ist das nicht: Der Zwang zum Wachstum ist im derzeitigen Wirtschafts­system eingebaut.

Wachstum muss sein
Denn selbst wenn der Bedarf an Gütern sinkt, müssen Unternehmen wachsen. Die Autoindustrie hat das in der Krise deutlich vor Augen geführt. Opel etwa kann es sich nicht leisten, einfach hunderttausend Autos weniger zu produzieren, weil die Nachfrage fehlt – die Optionen lauten nur: wachsen oder weichen. Die Produktivität jedes einzelnen Arbeitsplatzes muss stetig steigen – sonst wird das Unternehmen nicht ein bisschen kleiner, sondern von der Konkurrenz aus Ländern mit billigeren Löhnen weggewischt. Zugleich bleibt die Arbeitszeit aber unverändert – und das bedeutet: Allein um die Arbeitsplätze zu halten, ist Wachstum notwendig. Kein Wachstum, keine Arbeit; keine Arbeit, kein Konsum; kein Konsum, noch weniger Wachstum. Zweitens arbeitet die Wirtschaft auf Pump: Unternehmen investieren auf Kredit. Damit sie Zinsen zahlen und Gewinne machen können, müssen sie zwangsläufig wachsen – sonst werden sie von Konkurswellen weggefegt. Und da das Risiko dank der modernen Finanzinstrumente über den ganzen Globus verteilt ist, trifft das auch gleich die Finanzmärkte im Kern. Kurz: Entweder die Weltwirtschaft wächst – oder sie bricht zusammen. Deshalb bleibt der Politik gar nichts anderes übrig, als Geld – geliehen von den Finanzmärkten – in die Konjunktur zu pumpen und damit die Spirale am Laufen zu halten.

Klimawandel schärft Bewusstsein
Nicht erst seit der Krise mehren sich die Zweifel an diesem System: Denn der Wachstumsglaube hält nicht, was er in Nachkriegszeiten einmal versprach. Die Arbeitslosigkeit stieg in den meisten Ländern auch in den Boomzeiten der 2000er-Jahre an. Die breite Bevölkerung erlangte nicht mehr Wohlstand – die Reallöhne sind in den letzten Jahren in ganz Europa gesunken. Und der Klimawandel schärft das Bewusstsein dafür, dass Wirtschaftswachstum auf Kosten von Umwelt und künftigen Generationen erkauft wird: Wachstum braucht Ressourcen – und die gehen zur Neige. Das gilt nicht nur für fossile Brennstoffe. „Wir sprechen nicht mehr von Peak Oil, sondern von Peak Everything: Auch bei vielen Metallen, Gas und Getreide ist die maximale jährliche Nutzung überschritten“, sagt Richard Heinberg.Dazu kommt: Wachstum macht nicht mehr glücklich. Stieg die Zufriedenheit der Europäer bis Mitte der 1970er kontinuierlich an, so ist sie seither gleich geblieben. Damals war die Wohnfläche noch um ein Drittel kleiner, man hatte bestenfalls ein Auto statt zwei, und das Familien­einkommen war nur rund halb so hoch. Doch scheint es einen Punkt in der Gesellschaft zu geben, an dem „Mehr“ nichts mehr bringt – und Qualität in den Vordergrund rückt.

Auswege aus dem Wachstumszwang
Das gilt auch für ganze Wirtschaften: Sind sie einmal gesättigt, wachsen sie kaum mehr. Das Institut für Wachstumsstudien in Gießen hat 21 entwickelte Volkswirtschaften untersucht und festgestellt: In 15 davon sinken die Wachstumsraten kontinuierlich – darunter auch Österreich.
Die Versuche, das Wachstum aufrechtzuerhalten, werden angesichts dieser programmierten Flaute immer verzweifelter – bis hin zu Verschrottungsprämien, die die Vernichtung funktionierender Autos fördern, damit neue verkauft werden können. Doch sie können nicht über eine Tatsache hinwegtäuschen: „In den alternden, gesättigten Volkswirtschaften Europas ist das Potenzial für Wachstum ausgeschöpft“, sagt Fritz Hinterberger vom Institut SERI (Sustainable Europe Research Institute), das gemeinsam mit drei Ministerien, der Nationalbank und der Bank Austria am 28. Jänner zur Konferenz „Wachstum im Wandel“ in Wien lädt. Die Frage, die dort beantwortet werden soll: Wie kann man dem Wachstumszwang entkommen?

1. Arbeitsplätze ohne Wachstum
Die größte Herausforderung sind Jobs. Eine nicht neue Lösung, die einfach klingt, aber schwierig umzusetzen ist: Die Arbeitszeit pro Kopf muss verkürzt werden – und zwar ohne Lohnausgleich. Damit zwingt nicht jede Produktivitätssteigerung zur Erhöhung des Umsatzes. „Die Studien zur Zufriedenheit zeigen, dass materieller Wohlstand alleine ohnehin nicht genügt – sondern Freizeit, Zeit für die Familie und für ehrenamtliche Arbeit immer wichtiger werden“, sagt Hinterberger. Die Modelle: Teilzeitarbeit, Karenz und Auszeiten für Bildung – zugleich aber eine längere Lebensarbeitszeit. Diese Art der Arbeitszeitverkürzung ist in der Krise schon erprobt worden: In Deutschland und Österreich half Kurz­arbeit, Arbeitsplätze trotz schrumpfender Umsätze zu erhalten. Noch mehr Erfahrungen haben die Niederlande. Dort ist der Arbeitsmarkt sehr flexibel – geschützte Vollzeitarbeitsplätze sind schon eine Ausnahme, das Wechseln zwischen Vollzeit, Teilzeit und Auszeiten ist zur Normalität geworden. Der Erfolg ist messbar: Die Niederlande haben die Krise mit der niedrigsten Arbeitslosenrate überstanden. In der neu gewonnenen Freizeit wird übrigens ebenfalls Wohlstand geschaffen – nur ist der im BIP nicht enthalten. Deshalb, so die Apologeten der neuen Arbeitswelt, sollen ehrenamtliche Tätigkeiten und Familienarbeit in einer Gesellschaft höher bewertet werden.

2. Ressourcenverbrauch statt Arbeit besteuern
Damit Unternehmen dem Zwang entkommen, ihre Produktivität über Gebühr zu erhöhen, muss auch das Steuer­system umgebaut werden. „In Gesellschaften, in denen es aus ökologischen und sozialen Gründen besser wäre, das Wachstum still zu halten, ist diese dauernde Produktivitätssteigerung ein Unsinn“, sagt Ernst Ulrich von Weizsäcker (siehe Interview). Die Lösung: Die Lohnnebenkosten und die Besteuerung von Arbeit sollten gesenkt und dafür die Steuern auf Ressourcen wie Energie kräftig angehoben werden. Damit werden zugleich Jobs erhalten und umweltschädigendes Wachstum eingeschränkt. In Österreich hat sich das ÖVP-nahe Ökosoziale Forum diesen Umbau des Steuersystems auf die Fahnen geschrieben – und auch gleich die Verteilung des Wohlstandes mitgedacht: In einem neuen Grundsatzpapier, das gemeinsam mit dem WIFO ausgearbeitet wurde, fordert das Institut rund um Franz Fischler auch höhere Steuern auf Vermögen. „Wachstum ist ja vor allem notwendig, weil sonst auffällt, dass sich immer weniger Menschen immer mehr vom Kuchen nehmen“, sagt auch Ferdinand Lacina von der SPÖ. „Weniger Wachstum führt daher zu sozialer ­Unruhe, wenn nicht umverteilt wird.“

3. Werte statt schneller Gewinne
Hans Christoph Binswanger, emeritierter Professor der Universität Sankt Gallen, schlägt vor, die Strukturen der Unternehmen zu verändern: Das Modell der traditionellen Aktiengesellschaft hat seiner Meinung nach ausgedient. „Die Rechtsform der Aktiengesellschaft hat den Wachstumszwang mit eingebaut“, sagt der Ökonom. Stattdessen sollten möglichst viele Unternehmen in Stiftungen umgewandelt werden, in deren Gründungsurkunde nicht nur Gewinn, sondern auch ökologische und soziale Aspekte als Ziele vorgegeben sind. Damit könnte auch die Diskrepanz zwischen Manager- und Arbeitergehältern gemindert werden, meint Binswanger – und damit eine weitere Triebfeder des Wachstumszwangs verschwinden.

4. Ein neues Geldsystem
Doch das alles nützt nichts, wenn das Finanzsystem, das die Realwirtschaft mit hohen Rendite­erwartungen treibt, nicht reformiert wird. Auch hier kommt ein Vorschlag von Binswanger, und der ist radikal: Er plädiert für das „100-Prozent-Geld“. Binswanger: „Damit erhalten die Zentralbanken das ausschließliche Recht zur Geldschöpfung – die Banken müssten jeden Kredit durch Guthaben bei der Zentralbank decken.“ Das würde zwar bedeuten, dass wesentlich weniger Kredite vergeben – und weniger Gewinne gemacht – werden. Aber dafür wächst die Sicherheit. Binswangers Überlegung: „Dieses System schränkt nicht nur den Wachstumszwang ein, sondern hilft auch dabei, das Finanzsystem stabil zu halten. Wie notwendig das ist, hat die Krise gerade gezeigt.“

5. Fortschritt neu messen
Chancen auf Veränderungen bestehen nur, wenn das BIP als entscheidende Maßzahl für gesellschaftlichen Fortschritt abgelöst wird. Die Bemühungen der OECD, der EU und der Stiglitz-Kommission zielen daher vor allem darauf ab, neue Indikatoren zu finden, die das Wachstum in den Hintergrund rücken lassen. „Das BIP ist eine wirklich armselige Größe, um den Fortschritt einer Gesellschaft zu messen“, sagt Stiglitz. Doch trotz des mehrere Hundert Seiten langen Reports seiner Kommission ist der Modus, wie Umwelt und Soziales mit eingerechnet werden sollen, noch unausgereift. Die EU-Kommission arbeitet ebenfalls noch daran – ein Index zur Messung von Lebensqualität soll in diesem Jahr vorgestellt werden. Anleihen könnte sie in einem weit entfernten, kleinen Entwicklungsland nehmen: Das Königreich Bhutan hat das BIP als Maßzahl für Wohlstand schon lange verworfen. Seit 1972 wird das „Brutto-Sozialglück“ gemessen.

Business mit der „Ware Frau“

Sklaverei ist kein Phänomen der Vergangenheit. Betroffen sind zehntausende afrikanische Frauen, die nach Europa in die Zwangsprostitution verschleppt werden. Von Mary Kreutzer und Corinna Milborn. DER STANDARD, Album.

Joy sitzt auf einem Stuhl, der Kopf mit den langen Plastiklocken hängt nach unten und streift den Boden, sie umarmt ihre Unterschenkel und wippt vor und zurück. Hinter ihr läuft stumm ein Fernseher, Autorennen. Die Minuten ziehen unendlich langsam vorbei in dieser Mischung aus Stundenhotel und Bordell gegenüber dem Prater in Wien, einem der Zentren des Straßenstrichs der Stadt. Nebenan zieren verstaubte Spitzenvorhänge und Topfblumen die billigen Parterrewohnungen, nur in diesen drei Fenstern brennt rotes Licht. „Kleinhandel mit Getränken und Privatzimmervermittlung“ steht auf dem Schild neben der Tür, gemalt mit ungelenken Buchstaben auf weißem Karton. Auf den alten Ledersofas sitzt ein halbes Dutzend junger Mädchen, alle aus Nigeria. Dazwischen thront eine Madame: Eine missmutige ältere Afrikanerin im Trainingsanzug mit einem Tuch um den Kopf, die scharfe Kommandos zischt. Joy hebt den Kopf, seufzt laut und zieht die Jeans hoch. Sie setzt sich neben einen Gast, legt die Hand auf sein Knie und fragt mit bemerkenswerter Abscheu in der Stimme: „Fuck?“ Doch der Gast wartet auf ein anderes Mädchen. Als er aufsteht, setzt sich Joy wieder auf ihren Stuhl und umarmt ihre Knie, den Kopf nach unten.

Joy ist eine von zehntausenden jungen Nigerianerinnen, die nach Europa verkauft wurden, um in der Prostitution ausgebeutet zu werden. Draußen, vor dem Bordell, liegt das Wiener Messegelände, an dem lange Reihen von Mädchen und Frauen stehen, die meisten aus Nigeria, die meisten blutjung: Man nimmt ihnen kaum ab, dass sie über 18 sein sollen. Sie stehen mit Miniröcken in der beißenden Kälte, oder sie tragen einfach Jeans und Turnschuhe. Wenn eine Glück hat, dann zahlt der Freier ein Zimmer im Stundenhotel. Sonst ist der Arbeitsplatz ein Baum, an den gelehnt, das Geschäft abgewickelt wird, oder der Beifahrersitz eines Autos. Wiese und Gehsteig sind übersät mit gebrauchten Kondomen und Taschentüchern. 30 Euro für „Blasen und Verkehr“ ist hier der Standard-Tarif, an schlechten Tagen werden die Preise halbiert. Damit müssen die Mädchen und Frauen die Menschenhändler abzahlen: Sie werden meist unter falschen Versprechungen angeworben – ein Job, ein Studium. Mit gefälschten Papieren werden sie nach Europa gebracht und in die Prostitution gezwungen. Bis sie ihre „Schulden“ abgezahlt haben, sind sie praktisch versklavt. 45.000 bis 60.000 Euro ist der Tarif derzeit, das sind beim Prater in Wien 2000 Kunden. Dazu kommen exorbitante Kosten für Miete und Kleidung von bis zu 3500 Euro pro Monat.

Blessing hat das Martyrium hinter sich, aber sie zittert noch, wenn sie davon erzählt. Sie wurde nach Europa verkauft und nach acht Monaten als Zwangsprostituierte nach Nigeria zurückgeschoben. Wir treffen sie in Benin-Stadt, einer Stadt im Süden Nigerias mit Straßen aus rotem Staub und niedrigen Häusern. Die meisten der Opfer von Frauenhandel aus Nigeria kommen aus dieser Stadt oder der Umgebung. Sie ist sehr schmal und freut sich so sehr über die mitgebrachten Kleider, dass sie uns mehrmals um den Hals fällt. „Ein Freund der Familie hat meine Eltern angesprochen, ob ich nach Europa will“, erzählt sie. „Er hat ein Studium in Italien versprochen.“

„Als wären wir Tiere“

Dass die Reise nicht auf legalem Weg ablaufen würde, war klar. Es gibt keine Visa für Frauen aus Nigeria, die in Europa studieren oder arbeiten wollen. Blessing musste bei einem Voodoo-Priester schwören, dass sie jene, die sie nach Europa bringen, nie verraten würde. Dann begann eine Reise durch die Hölle: die Sahara. Seit die Einreise nach Europa mit dem Flugzeug wegen verschärfter Kontrollen schwierig geworden ist, kommen immer mehr Opfer von Menschenhandel über Land und Meer. Sie müssen sich ihre Reise auf dem Weg selbst verdienen, werden von einem Zwischenhändler zum nächsten verkauft. Viele brauchen dazu mehrere Monate. Blessing verbrachte fast zwei Jahre auf dem Weg durch die Wüste von Nigeria nach Marokko, immer auf der Flucht vor den Sicherheitskräften und vor Räubern, der Wüste ausgeliefert.
„Wir mussten ständig zu Fuß gehen. Einmal waren es zwei Wochen am Stück. Wir sind die ganze Nacht immer unterwegs gewesen. Wenn wir einen Araber sahen, dann bettelten wir ihn um Essen und Wasser an. „De l\’eau, de l\’eau“ – so sagen sie dort. Manche warfen uns Früchte zu, als wären wir Tiere. Viele starben in diesen Tagen. Man sieht nichts in der Wüste, bis zum Horizont nur Wüste. Man weiß nicht, wo man hergekommen ist, wohin man geht. Ich habe meinen Urin an einen Mann verkauft, weil es kein Wasser gab. Es gingen viele mit uns los, aber es schafften nicht alle bis ans Ziel. Viele weinten, weil die Schwachen zurückgelassen wurden. Wir wussten, sie würden sterben.“

Blessing schafft es nach fast zwei Jahren Irrfahrt, mit einem Boot nach Spanien überzusetzen. Dort holt sie sofort ein Kontaktmann aus dem Rot-Kreuz-Lager ab: Die Ware Frau ist an ihrer Destination angekommen.
Menschenhandel ist laut UNO das am schnellsten wachsende Business der Welt, manche meinen, er hat Drogen- und Waffenhandel im Umfang bereits überholt. Vier Millionen Frauen und Mädchen werden weltweit jährlich zum Zweck der Heirat, Prostitution oder Sklaverei verkauft und gekauft. Einer der größten Handelsplätze des Geschäfts mit der Ware Frau ist Westeuropa, wohin laut Amnesty international jährlich 500.000 Frauen und Mädchen geliefert werden. Die größten Gewinne werden mit dem Handel in die Zwangsprostitution gemacht.

Händlerinnen aus Benin-Stadt

Frauenhandel aus Afrika nach Europa ist ein junges Phänomen: Er begann in den 1980er-Jahren im Gefolge der Wirtschaftskrise in Nigeria. Das Business liegt in der Hand von Frauen, genannt Madames – was gängige Schemata von Opfern und Tätern, bösen Männern und armen Frauen durchbricht. Es waren Händlerinnen aus Benin-Stadt in Nigeria, die zuvor in Italien Handtaschen und Gold gekauft hatten, die die Verdienstmöglichkeiten in der europäischen Sexindustrie als Erste bemerkten. Als die Wirtschaft in Nigeria zusammenbrach, begannen sie, nigerianische Mädchen nach Europa zu importieren. Bis heute sind die Menschenhändlerinnen Frauen. Die meisten davon waren selbst vorher Opfer: Nach dem Abzahlen der „Schulden“ kontrollieren sie erst für eine andere Madame deren Mädchen, bis sie genug Geld haben, um selbst welche zu kaufen. In einer Art Bausparen für Menschenhändlerinnen, Osusu genannt, zahlen mehrere Madames regelmäßig in einen gemeinsamen Topf ein. Wenn 10.000 Euro zusammengekommen sind, kann sich eine ein neues Mädchen bestellen. „Jene, die selbst Opfer waren, sind noch bösartiger. Sie haben selbst keine Gnade erfahren, und sie kennen keine Gnade“, sagt Schwester Eugenia Bonetti, die in Italien Betroffene betreut.

Die Männer arbeiten in der zweiten Reihe: als Rekrutierer, Dokumentenfälscher, Schlepper, Schläger. Die Mafia der Menschenhändlerinnen ist keine große, schlagkräftige Organisation. Es ist ein Cluster-Netzwerk, das sich immer weiter fortpflanzt – flexibel und wenig auffällig. „ Europa hat uns einen ganz klaren Platz zugewiesen: Ihr macht die Drecksarbeit auf der Straße, oder ihr geht wieder. Wir ergreifen diese eine Chance, die wir haben. Die Händler ebenso wie die Mädchen“, erklärt uns ein Trolley defensiv – so heißen die Schlepper, die den Madames die Ware bringen. „Es spricht doch für sich, dass Asylwerberinnen in Österreich praktisch nur in der Prostitution arbeiten können.“ ExpertInnen schätzen, dass heute bis zu 100.000 Nigerianerinnen in Europa als Zwangsprostituierte arbeiten. Sie suchen ein besseres Leben für sich und ihre Familie oder wurden einfach von ihren Angehörigen verkauft.

Die meisten wissen nicht, dass sie die Prostitution erwartet. Und jenen, die es wissen, wird erzählt, dass sie in wenigen Monaten die „Schulden“ von mehreren 10.000 Euro abzahlen könnten. „Wenn die Mädchen ankommen und bemerken, dass sie an eine Madame verkauft wurden und ihr ausgeliefert sind, ist das ein sehr schwieriger Moment. Wenn ihnen dann klar wird, dass sie in kurzen Röcken halbnackt auf der Straße nachts stundenlang in der Kälte stehen müssen, dann verzweifeln sie. Alle erzählen mit Tränen in den Augen davon“, erzählt Simona Meriano vom Beratungsverein Tampep, der Prostituierte in Turin betreut.

Vodoo-Zauber als Druckmittel

Blessing erzählt: „Am ersten Abend ging ich auf die Straße, mit den Leggings und der Bluse, die sie mir gegeben hatte. Es kamen Autos auf mich zu, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte. An diesem Tag hatte ich keine Kunden. Die Madame wurde böse und schrie. Es folgten Schläge. Ich fand keinen Ausweg, konnte keine klaren Gedanken fassen. „Die anderen arbeiten und du nicht – was machst du die ganze Zeit?“, schrie sie. „Schläfst du auf der Straße? Wie willst du das Geld abzahlen?“ Ich sagte ihr, ich könne das nicht machen, niemand habe es mir gesagt, ich könne es einfach nicht! Aber ich musste.

Dann kamen die ersten Kunden. Ich war nicht mehr Blessing. Die, die ich einmal war, war tot. Weiße Männer schliefen mit mir, gaben mir Geld, und ich gab es ab. Manchmal kamen gar keine, manchmal fünf hintereinander. Wenn sie nicht zahlen wollten, dachte ich: „Gott, wie soll ich das überleben?“ Manchmal nahmen sie mich in einen Club mit, manchmal schliefen sie mit mir im Auto. Ich bin bei jedem Mal innerlich gestorben.“

Die Mädchen und Frauen sind in einem dichten Netz an Zwängen gefangen, die eine Flucht fast unmöglich machen. Es ist nicht nur rohe körperliche Gewalt, die sie dazu zwingt weiterzuarbeiten. Die MenschenhändlerInnen behalten ihre Papiere ein, was den Gang zur Polizei unmöglich macht – dort würden sie, wenn sie die Täter nicht anzeigen, nicht als Opfer behandelt, sondern als illegale Einwanderinnen abgeschoben. Eine Anzeige wiederum ist riskant: Es gibt zwar Opferschutzprogramme, aber sie bieten nur befristeten Aufenthalt, keine Garantie auf Schutz, nicht einmal eine Arbeitserlaubnis. Vor allem aber können sie die Familien nicht schützen. Die Menschenhändlerinnen haben ein dichtes Netzwerk: Zahlt eine Betroffene nicht ab, gerät die Familie unter Druck – bis hin zum Mord. Das wirksamste Mittel, die Opfer zum Schweigen zu bringen, ist aber der Schwur, den alle Betroffenen vor ihrer Abreise aus Nigeria ablegen müssen: Ein Ritual vor einem Voodoo-Priester – oder Juju, wie die weitverbreitete Religion in Nigeria heißt.

Davon kann Joana Adesuwa Reiterer erzählen. Die junge Schauspielerin aus Benin-Stadt folgte vor fünf Jahren ihrem damaligen Mann nach Österreich, einem Nigerianer mit österreichischer Staatsbürgerschaft. Er hatte ihr gesagt, dass er eine Restaurantkette in Österreich besitze. „Aber nach und nach habe ich bemerkt, dass mein Exmann Menschenhändler war“, erzählt Joana. „Er brachte junge Nigerianerinnen mit gefälschten Papieren nach Europa und verkaufte sie in die Prostitution.“ Für Joana Reiterer war die Rolle der Zuhälterin vorgesehen, sie kennt das Business von innen. Joana konnte fliehen und kämpfte sich durch: Sie absolvierte mehrere Ausbildungen, heiratete und arbeitet heute in Wien erfolgreich als Schauspielerin. Vor allem gründete sie aber den Verein Exit, mit dem sie in Wien die Opfer von Frauenhandel aus Nigeria betreut und wertvolle Aufklärungsarbeit leistet. Sie erzählt, wie ihr Mann ihr die Zwangsmaßnahmen für die Prostituierten erklärte: „Mein Exmann versprach die Telefonnummer eines Mannes, der die Mädchen körperlich bedrohen würde, wenn sie nicht zahlen und nicht gehorchen. Man könne ihnen auch sagen, dass sie illegal hier sind und keine Papiere haben, und dass man sie der Polizei ausliefern wird, die sie ins Gefängnis bringt und abschiebt. Oder man kann sie mit einem Juju-Zauber in Zaum halten: Das sei das Wirkungsvollste. ,Nimm dieses Puder und sag ihnen, dass abgeschnittene Fingernägel, Haare und Schamhaare von allen Mädchen darin sind. Sie mussten das vor der Reise beim Juju-Priester in Nigeria abgeben und schwören, dass sie jede Arbeit machen und das Geld zahlen. Nimm das Puder auf die Hand und drohe damit, es in die Luft zu blasen und einen Fluch auszusprechen. Sie werden sich dann aus Angst gegenseitig kontrollieren: Schließlich wären alle betroffen.“

Drohungen werden Realität

In Benin-Stadt machen wir einen der Juju-Priester ausfindig, der in Frauenhandel involviert ist. Dr. Baba ist fast zwei Meter groß, trägt eine gelbe Hose und sonst nichts. Sein riesengroßer nackter Bauch hüpft, wenn er lacht, und das tut er gerne und ausgiebig. Baba ist ein ranghoher Juju-Priester, ein „Elefant“. Juju ist ein Geheimnis, mit Außenstehenden spricht man nicht über die Rituale. Doch Dr. Baba verfällt so sehr ins Prahlen über seine Kräfte, dass er erzählt, welches Ritual die Opfer von Frauenhandel durchlaufen müssen: „Die Mädchen, die zum Arbeiten nach Europa gebracht werden, kommen vor der Abreise und leisten in einem Ritual im Schrein einen Schwur. Ich nehme dafür Fingernägel, Haare, Schamhaare, Achselhaare und Regelblut. Darauf schwören sie, dass sie zahlen werden und wie viel. Wenn eine nicht zahlt, dann wird sie krank, verrückt oder drogensüchtig“, erklärt der Juju-Mann, richtet sich zu voller Größe auf und rollt die blutunterlaufenen Augen. Er sieht einschüchternd aus in solchen Momenten. Bei den Ritualen sind psychogene Drogen und Alkohol im Spiel – das verstärkt wohl den Eindruck bei den Opfern. Er besuche seine „Töchter“ regelmäßig in Europa, sagt Dr. Baba – als Geist. So kann er sie kontrollieren.

Für die Opfer werden die Drohungen zu Realität: Oft sterben Angehörige, wenn sie die Prostitution verweigern, erzählt uns ein Psychologe von Naptip, der nigerianischen staatlichen Stelle gegen Menschenhandel. Meist aber trifft es die Frauen selbst: Sie glauben an den Schwur und verfallen in Wahnvorstellungen. Die Juju-Priester sind ein wichtiger Teil der Frauenhandelsmafia. Verfolgt werden sie trotzdem nicht: „Als Beamter weiß ich, dass ich sie verfolgen sollte“, sagt der Psychologe. „Aber als Afrikaner glaube ich an den Zauber.“

Rassisten, die sich bedienen

Die Wurzel des Frauenhandels ist der Absatzmarkt in Europa. Jeder dritte Mann, schätzt die deutsche Hurengewerkschaft Hydra, nimmt regelmäßig die Dienste von Prostituierten in Anspruch. Allein in Wien besuchen 15.000 Freier täglich Prostituierte, schätzt der Cedaw-Report über Frauenrechte. Seit immer weniger Westeuropäerinnen in der Prostitution arbeiten, wird die Nachfrage durch Frauen aus ärmeren Ländern gedeckt – wenn nötig, mit Zwang. Einer der Freier ist Gregor. Wir machen ein Gespräch in der Nähe des Praters aus und treffen einen Durchschnittsmann: Gregor trägt ein Sportsakko über Jeans, seine kurzen Haare lichten sich zu einer Glatze, seine Schuhe glänzen teuer. Er hat einen anspruchsvollen Job, ein schickes Auto und eine Lebensgefährtin zu Hause, die nichts von seinem Hobby weiß: Schon seit seiner Schulzeit in einem der Nobelgymnasien Wiens bedient er sich auf dem Strich. Er kennt die Geschichten der Nigerianerinnen auf dem Straßenstrich. Er nimmt sie trotzdem.

Wissen die Freier, was sie tun – und was tun sie, wenn sie merken, dass sie es mit Zwangsprostituierten zu tun haben? „Soll ich ehrlich sein? In diesem Moment ist dir das egal“, sagt Gregor offen. Afrikanische Prostituierte, erklärt er, füllen eine Marktlücke: „Sie sind immer billiger als die anderen. Das geht wohl auf die Zeit des Sklavenhandels zurück.“ Afrikanerinnen erfüllen außerdem Sehnsucht nach Exotik; und erschreckend oft sind es gerade Rassisten, die sich ihrer bedienen. Ob die Prostituierten ihre Arbeit freiwillig machen, ist den meisten Freiern egal: Auf eine Frage in einem Freierforum im Internet antworten uns 19 Freier. Alle gehen davon aus, dass es in Wien Zwangsprostitution gibt. Doch nur einer der 19 sagt, er würde bei einem konkreten Verdacht etwas unternehmen.

Der Frauenhandel aus Afrika nach Europa wird von Afrikanern und Afrikanerinnen betrieben – doch die Verantwortung liegt in Europa. Hier ist nicht nur der Markt: Auch das Rechtssystem spielt den Frauenhändlern in die Hände. Die wirtschaftliche Lage in Nigeria – an der Europa nicht unschuldig ist – zwingt fast in jeder Familie einen Angehörigen dazu, auszuwandern. Seit es unmöglich ist, ein Visum für Arbeitszwecke zu bekommen, läuft der einzige Weg nach Europa über illegale Bahnen, die Menschenhändler können sich den Familien der Opfer als Helfer präsentieren. Dank der Korruption an den europäischen Botschaften sind gefälschte Visa mittlerweile fast der einzige Weg, nach Europa zu kommen. Österreich wurde so zu einer Drehscheibe für den Frauenhandel aus Nigeria: Der österreichische Konsul in Lagos wurde 2006 verurteilt, weil ihm nachgewiesen wurde, dass er fast 700 Visa irregulär vergeben hatte. Geld sei nicht im Spiel gewesen. Menschenhändler in Nigeria erzählen uns allerdings von einer wahren Parallelbotschaft, in der zu fixen Tarifen österreichische Visa gekauft werden konnten.

Kleine Schritte von 30 Euro

Ist eine Frau nun nach Österreich geschleppt worden, wird sie von den Menschenhändlern mit einer falschen Geschichte zum Asylamt geschickt: Denn Asylwerberinnen dürfen hier zwar keine normalen Jobs machen – aber ganz legal als Prostituierte arbeiten. Für die Dauer des Asylverfahrens können die Frauen also ausgebeutet werden, ohne Verfolgung durch die Behörden zu fürchten. Nach drei bis vier Jahren werden sie dann abgeschoben. Die Menschenhändler importieren die Ware. Der Staat schiebt sie wieder ab, wenn sie ausgelaugt ist.

Opfer von Menschenhandel steht zwar Opferschutz zu – allerdings nur dann, wenn ihre Aussagen zu einem Verfahren gegen Menschenhändler beitragen. Dieses Risiko ist für die meisten Betroffenen zu hoch. „Kein Opferschutzprogramm der Welt kann die Familien zu Hause schützen“, erklärt uns ein Beamter. Das bindet der Polizei die Hände: „Beweise können nur vom Opfer geliefert werden. Aber die Kooperationsbereitschaft der Opfer ist gleich null“, sagt Gerhard Joszt von der Bundespolizei.

Die meisten Opfer von Frauenhandel, die mit der Polizei in Berührung kommen, werden daher einfach abgeschoben, oft noch in der Arbeitskleidung. Dazu kommt, dass die Polizei oft nicht darauf eingestellt ist, Opfer von Menschenhandel zu erkennen – oder erkennen zu wollen. Als Joana Reiterer, die Schauspielerin, ihren damaligen Mann in Wien wegen Menschenhandels anzeigen wollte, wurde die Anzeige gar nicht erst aufgenommen: Sie solle sich erst scheiden lassen, riet ihr der diensthabende Beamte.

Eine Tour durch alle Institutionen, mit denen Betroffene von Frauenhandel zu tun haben, zeigt: Einfache Lösungen gibt es nicht. Denn die afrikanischen Prostituierten am Straßenrand sind nicht nur Opfer eines Verbrechens: Es sind die großen Verwerfungen unserer globalen Gesellschaft, die dazu führen, dass sie hier ausgebeutet werden – Unterdrückung von Frauen, globale wirtschaftliche Ungleichgewichte und Rassismus.
Im Bordell und Stundenhotel beim Prater ist es mittlerweile fünf Uhr früh, Joy erwacht aus ihrer krummen Haltung. Die Madame klatscht in die Hände, die Mädchen auf den Ledercouchs gähnen und stehen auf. Sie schnappen ihre Taschen und Jacken, verlassen mit eingehängten Armen das Bordell. Draußen wird es schon hell, die Mädchen laufen auf die Straße, winken den Autos zu: Es ist die letzte Möglichkeit für diesen Tag, noch ein bisschen Geld zu verdienen. Ein Auto mit drei betrunkenen Insassen bleibt stehen, lange wird verhandelt. Die drei nehmen zwei Mädchen für fünfzig Euro. Joy und eine andere steigen sofort ein. Joys Asylantrag wurde abgelehnt, sie ist mittlerweile illegal in Österreich und arbeitet mit der Kontrollkarte einer Kollegin. Sie zahlt seit zwei Jahren ab. Bald wird die Polizei wohl einen Tipp bekommen, und Joy wird abgeschoben werden. Einstweilen hat sie noch Hoffnung und arbeitet weiter daran, sich freizukaufen, Kunde für Kunde, in kleinen Schritten von 30 Euro. (Von Mary Kreutzer und Corinna Milborn, DER STANDARD, ALBUM, 29./30.3.2008)