Der Tapas-Präsident

José Luis Zapatero will als EU-Ratspräsident Europa einigen und aus der Krise führen. Allein: Der Spanier hat selbst ein Problem – denn zuhause droht neuerlich die Rezession. FORMAT Nr. 02/10 vom 15.01.2010

Jamón Ibérico, Manchego-Käse und Calamares: Kleine spanische Köstlichkeiten leuchten aus der Hochglanzbroschüre, mit der Spanien für seinen EU-Vorsitz wirbt. Doch das Bild der Tapas ist unangenehm doppeldeutig. Spanien hat für seine Präsidentschaft ein pompöses Menü geplant und könnte doch nur eine Häppchen-Präsidentschaft liefern. Das liegt nicht nur am Kompetenzenwirrwarr – erstmals muss sich ein Ratspräsident mit dem neuen ständigen Ratspräsidenten Herman Van Rompuy um das Scheinwerferlicht balgen –, sondern auch am Unwillen der Partner: Die gro-ßen Pläne des Ministerpräsidenten José Luis Zapatero zerschellen schon am Start an der gerümpften Nase der nördlichen Nachbarn.

Den ersten Rüffel fing sich Zapatero schon in der ersten Arbeitswoche ein. Der frisch gebackene Ratspräsident hatte eben erst die Schwerpunkte seiner Präsidentschaft verkündet. Ganz oben auf der Liste: die neue wirtschaftspolitische Strategie für die Union namens „EU 2020“, die die spektakulär gescheiterte Lissabon-Strategie ersetzen soll. Zapatero ging die Aufgabe als „glühender Europäer“ an. Spanien hat vom EU-Beitritt massiv profitiert, „mehr Europa“ hat für Spanier einen positiven Klang. Aus diesem Geist ist der erste gescheiterte Vorschlag Zapateros geboren: nämlich wirtschaftspolitisch säumige Länder mit Sanktionen zum Mitmachen zu zwingen. „Wir wollen Anreize und, wenn nötig, auch Korrektive in die Strategie EU 2020 einbauen“, verkündete er. Deutschland reagierte empört, qualifizierte den Vorstoß als „unnötig“ ab – und Zapatero ruderte zurück. Denn hinter dem Rüffel steht nicht europamüder Nationalismus, sondern ein Glaubwürdigkeitsproblem: Die EU-Partner wollen sich nicht ausgerechnet von Spanien sagen lassen, wie sie aus der Krise kommen sollen – denn Spanien ist innerhalb Europas einer der am härtesten getroffenen Staaten.

Rezession auch 2010. Spaniens rasanter wirtschaftlicher Aufstieg hing an einer spektakulären Immobilienblase. Als sie platzte, rutschte das Land viel heftiger als alle anderen EU-Staaten in die Krise. Größter Brandherd ist der Arbeitsmarkt: Im Oktober 2008 waren 2,6 Millionen Spanier arbeitslos, nur sechs Monate später waren vier Millionen ohne Job. Allein der Immobiliensektor baute eine Million Jobs ab, die Industrie entließ weitere 700.000 Mitarbeiter. Derzeit kratzt die Arbeitslosenrate an der 20-Prozent-Marke, die Jugendarbeitslosigkeit hat bereits 40 Prozent überschritten. Diese explodierende Arbeitslosigkeit hat José Luis Zapatero in ein Tief gestürzt: Vor kurzem noch galt er als Strahlemann, der 2008 deutlich die Wiederwahl gewann, und als Hoffnung der europäischen Sozialdemokratie. Nun verlor seine Partei die EU-Wahlen und liegt in allen Umfragen weit hinter den Konservativen. Und es wird nicht besser: Während sich der Rest Europas langsam vom Schock erholt, verpuffen in Spanien die Konjunkturpakete, mit denen Zapatero erst acht und nun noch einmal fünf Milliarden Euro in die Wirtschaft pumpte. Spanien ist 2010 unter den 15 schwächsten Volkswirtschaften der Welt, ein weiteres Rezessionsjahr wird erwartet.

Wenig glaubwürdig erscheint Zapatero auch in seinen Aufrufen, die EU-Wirtschaftspolitik nachhaltiger, sozialer und innovativer zu gestalten: Das Land investiert nur knapp über ein Prozent in Forschung und Entwicklung; vom neuen, fünf Milliarden schweren Konjunkturpaket sind nur 11,3 Prozent für innovative, ökologische und soziale Projekte vorgesehen.

Drohende Bankenkrise. Wirtschaftspolitisches Vorzeigeland war Spanien auf dem Bankensektor. Er war zwar bestimmender Teil der Immobilienblase, doch dank strenger Regulierungen blieb er 2009 vom großen Crash verschont und machte gute Gewinne. Doch nun droht auch dem Finanzsektor die Krise, und das gleich von drei Seiten: Erstens sind Spaniens Kredite meist flexibel an den Euribor gebunden – die niedrigen Zinsen schlagen nun durch und schmälern die Einkünfte. Zweitens steigt durch die Arbeitslosigkeit die Zahl der faulen Kredite rasant; sie liegt bereits bei acht Prozent. Und drittens beendet die EZB heuer ihre Niedriggeld-Politik und nimmt die Banken damit vom Liquiditätstropf. Die Folge: Zapateros Stolz, „nicht einen Cent Steuergeld“ in die Rettung von Banken gesteckt zu haben, könnte noch heuer in einem Rettungspaket verpuffen.

Im Rest der EU ist die Lage zwar rosiger als in Spanien – gejubelt wird jedoch nirgends. „Der Langzeitausblick ist nicht freundlich“, sagte Van Rompuy am Wochenende in Deutschland. Die Konjunkturpakete, so der Ratspräsident, hätten zwar kurzfristig den Abschwung gebremst – doch sie lösen weder Investitionen aus, noch senken sie die Arbeitslosigkeit. Das herausragendste Beispiel für diese Diagnose ist Spanien.

Das erhöht die Lust der EU-Länder auf mehr wirtschaftspolitische Kooperation, wie sie Zapatero vorschwebt, kaum – und schmälert seine Chancen auf die wirtschaftspolitisch prägende Präsidentschaft, die er ankündigt. Doch die Spanier haben vorgesorgt: Um sich zumindest Glanz und Pomp zu sichern, werden sie trotz der neuen Ratspräsidentschaft in Brüssel als letztes EU-Präsidentschafts-Land Gastgeber für die internationalen Gipfel sein und gleich elf davon ausrichten – darunter den EU-USA-Gipfel. In Brüssel ist man darüber wenig erfreut. Doch ein Foto mit Barack Obama, so die Hoffnung spanischer Diplomaten, zählt in der Geschichte mehr als das Stocken in der Sachpolitik.

Geht’s jetzt, Europa?

In den vergangenen Jahren wurde man, wenn man Ansprüche an eine gemeinsame europäische Politik stellte, vertröstet: Erst musste man abwarten, bis der Verfassungskonvent einen Text zustande gebracht hatte – dann wurde intensiv über dessen Ablehnung nachgedacht. Danach nahm der Kuhhandel um den Lissabon-Vertrag alle Energie in Anspruch. Solange dieser nicht ratifiziert war, durfte schon gar nicht über echte Politik gesprochen werden. Aber nun ist der Vertrag in Kraft, die Kommission bereit – liebe EU, wären wir jetzt so weit? Es gäbe da einiges zu tun: Von den großspurig angekündigten Finanzmarkt-Regulierungen ist kaum etwas umgesetzt. Eine gemeinsame Energiepolitik fehlt seit Jahren. Die Arbeitslosigkeit von knapp zehn Prozent harrt einer Lösung. Und Griechenland wäre auch noch zu retten.

Für das alles aber fehlt eine Voraussetzung: Europäische Institutionen müssen endlich verhindern können, dass jede europäische Idee im Hahnenkampf der Nationalstaatsegoismen zerrieben wird. Doch das ist noch ein weiter Weg: Zapateros Idee, wirtschaftspolitisch säumige Staaten zu sanktionieren, scheiterte kläglich – Lissabon-Vertrag hin oder her. Dabei dachten wir, jetzt sei Europa endlich so weit.

Richtig spenden für Haiti

Nach dem Beben in Haiti spenden Private, Unternehmen und Regierungen Millionen. Welche Organisationen die Gelder effizient einsetzen und wie unkoordinierte Hilfe wie beim Tsunami verhindert werden kann. FORMAT Nr. 03/10 vom 22.01.2010

Die Rettungskräfte dürften wohl selbst ihren Augen nicht getraut haben. Am Mittwoch dieser Woche barg die österreichische Notfallhelferin der Caritas, Ruth Schöffl, gemeinsam mit mexikanischen Kollegen eine 69-jährige Frau unter den Trümmern der Residenz des Erzbischofs in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince. Der Bischof wurde tot gefunden. Die Frau, völlig dehydriert, mit einer ausgerenkten Hüfte und einem gebrochenen Bein, ist nach sieben Tagen unter den Trümmern aber lebendig. „Ich war bei einem kleinen Wunder dabei“, sagt Schöffl sichtlich ergriffen.

Ruth Schöffl ist bereits ein paar Tage im fast völlig zerstörten Haiti. Seit dem verheerenden Erdbeben vergangene Woche, wo es laut Angaben der Vereinten Nationen (UNO) bis zu 200.000 Tote geben könnte, treffen trotz Flughafensperre, knappem Benzin und Überfällen auf Busse und Lkws täglich neue Helfer ein. Die UNO stockte die Zahl ihrer Blauhelmsoldaten von 3.500 auf 12.500 auf. Dazu kommen unzählige Mitarbeiter von Caritas, Rotem Kreuz, Ärzte oh-ne Grenzen und Co. Bis Mitte der Woche waren bereits 52 Rettungsteams mit 1.820 Helfern und mehr als 170 Hunden im Einsatz. Die Zeit drängt: Jetzt noch Überlebende zu finden, mehr als eine Woche nach dem Erdbeben, ist so gut wie unmöglich. Doch Millionen Haitianer haben seit Tagen weder frisches Wasser getrunken noch einen Bissen gegessen. Sie brauchen Medikamente, Decken und Notunterkünfte. Tausende müssen dringend operiert werden, bevor Infektionen sie töten. Und die Gefahr von Seuchen steigt stündlich.

Derweil laufen weltweit groß angelegte Spendenaktionen an: Die EU will 420 Millionen Euro bereitstellen. In Österreich spielte die ORF-Aktion „Nachbar in Not“ nach nur wenigen Tagen mehr als eine Million Euro ein, die Caritas sammelte bislang 600.000 Euro, das Rote Kreuz über 300.000 Euro. Experten erwarten, dass die Österreicher bis zu zehn Millionen Euro für Haiti spenden werden. Doch viele fragen sich: Bei wem ist meine Spende gut aufgehoben? Ein FORMAT-Report über richtiges Spenden nach der Katastrophe.

Professionalität statt Charity. Erstes Kriterium für eine wirksame Spende: eine professionelle Organisation. „Bei uns melden sich täglich Dutzende Menschen, die selbst nach Haiti fahren und mithelfen wollen“, sagt Max Santner, Leiter der internationalen Hilfe beim Österreichischen Roten Kreuz. „Das ist gut gemeint, aber kontraproduktiv: Jetzt muss professionell geholfen werden.“ Das Rote Kreuz etwa ist in fast allen Ländern der Erde aktiv. Ab dem ersten Tag wurden Hilfslieferungen aus dem großen Lager in Panama eingeführt. Am Dienstag startete in Österreich ein Flugzeug mit Notfall-Sanitäranlagen für 20.000 Menschen. Zu den 2.000 lokalen Mitarbeitern kommen jetzt bis zu 400 internationale Experten. Auch die Caritas öffnete gleich nach der Katastrophe ihre drei bestehenden Notfall-Lager und konnte so binnen Stunden Decken, Zelte, Wasser und Lebensmittel verteilen. „Weil es immer wieder Katastrophen in Haiti gab, haben wir die Lager eingerichtet“, erklärt Christoph Petrik-Schweifer, Caritas-Auslandshilfechef.

Diese erfahrenen Organisationen müssen sich an internationale, verbindliche Standards halten. Ehrenamtliche Helfer hingegen sind derzeit hinderlich. Schon jetzt sind zu viele vor Ort, die sich aus den knappen Hilfslieferungen versorgten. Auch Organisationen, die zu wenig Erfahrung in Extremsituation haben, kosten wertvolle Ressourcen – und sei es nur durch Fragen an die Experten, wie sie nun helfen sollen.

Unabhängigkeit. Auch Ärzte ohne Grenzen, die schon vor dem Beben drei Krankenhäuser mit 880 Mitarbeitern in Haiti betrieben, haben dafür keine Zeit. „Ich habe so etwas bislang noch nicht erlebt. Jedes Mal, wenn ich den Operationssaal verlasse, sehe ich Menschen, die verzweifelt um eine Operation bitten“, so Loris de Filippi, Nothilfekoordinator von Ärzte ohne Grenzen in Cite Soleil. Sein Hauptproblem: Der Flughafen ist zwar wieder funktionstüchtig – doch am Dienstag hielt das US-Militär, das die Kontrolle übernommen hat, schon das fünfte Flugzeug mit lebensrettendem Material von der Landung ab. „Wir mussten auf dem Markt eine Säge kaufen, um Amputationen durchführen zu können. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit“, sagt de Filippi.

Die verweigerten Landeerlaubnisse lassen erahnen, welche Probleme die Vorreiterrolle des Militärs bringen könnte. „Es ist daher wichtig, dass unsere Unabhängigkeit gewahrt bleibt“, betonen Hilfsorganisationen. Max Santner vom Roten Kreuz: „Wir koordinieren uns mit dem Militär und der UNO – aber wir lassen uns nicht koordinieren.“ Umso wichtiger ist es, unabhängige Organisationen durch Spenden zu stärken.

Verankerung vor Ort. Auch professionelle Helfer, die jetzt zum ersten Mal nach Haiti reisen und keine Partner vor Ort haben, können sich im Chaos nach dem Beben kaum zurechtfinden – und die Spendengelder schwerlich sinnvoll einsetzen. Am besten sind Spenden bei jenen Organisationen aufgehoben, die Erfahrung und Mitarbeiter vor Ort haben. Die Auswahl ist groß: Haiti ist das ärmste Land der Welt und wird regelmäßig von Naturkatastrophen heimgesucht. Über 700 Nichtregierungsorganisationen waren vor dem Beben in dem Inselstaat aktiv. Care etwa ist seit 1954 präsent, vor dem Beben mit 133 Mitarbeitern, Lager mit Nothilfe-Gütern sind auf der Insel. „Wir verteilen Nahrungsmittel und Wasseraufbereitung. Ein besonderes Anliegen sind uns schwangere Frauen und stillende Mütter“, sagt Angelika Redler von Care. Wer lieber an kirchliche Organisationen spendet, ist bei der Diakonie, bei Missio oder Jugend Eine Welt gut aufgehoben: Deren Spendengelder werden an das dichte Netzwerk der Kirchen in Haiti weitergeleitet.

Doch offizielle Spendengeber scheinen sich an dieses Kriterium nicht zu halten: So sorgt die Entscheidung der Stadt Wien, 250.000 Euro an den Arbeitersamariterbund zu spenden, für Unmut – hinter vorgehaltener Hand. „Ich verstehe nicht, warum man so eine Summe an eine Organisation spendet, die jetzt erst ein Team losschicken muss, um zu prüfen, wie man sie ausgeben könnte“, sagt ein erfahrener Helfer. Die zweite Tranche der Stadt Wien – noch einmal 250.000 Euro – geht an das Rote Kreuz und die Caritas. Ärzte ohne Grenzen blitzten ab: Deren Projekte seien „zu wenig konkret“, hieß es.

Vorsicht vor Abzockern. „Leider rufen solche Ereignisse auch Abzocker auf den Plan, denen es vorrangig darum geht, möglichst viel Geld für die eigene Organisation einzutreiben“, warnt Stefan Loipfinger, Chef der deutschen Organisation Charity Watch. Und selbst wenn der Wille zum Helfen da ist, werden die Gelder nicht immer sinnvoll eingesetzt: Zu viele Organisationen richten sich nicht nach den Bedürfnissen vor Ort, sondern nach dem Auftrag ihrer Spender – und müssen dann durchführen, wofür sie gesammelt haben, ob sinnvoll oder nicht. „Nach dem Tsunami gab es dafür einige schlimme Beispiele“, sagt Loipfinger: „Ein Dorf in Sri Lanka bekam drei Schulen nebeneinander. Eine Organisation baute gar ein Fischerdorf 10 km vom Meer entfernt. Das steht leer.“ Man sollte sich – vor allem bei Charity-Events – auch erkundigen, wie viel von dem Geld ankommt. Wer direkt spendet, hat es in Österreich leicht: Hier hilft das Spendengütesiegel bei der Orientierung.

Spenden nicht zweckwidmen. Schließlich kann noch ein Problem auftreten, an das angesichts des unendlichen Bedarfs in Haiti derzeit noch kaum jemand denkt: Bei großen Katastrophen sind oft zu viele Spendengelder an die Nothilfe gebunden – und die stehen dann für Entwicklungshilfe oder kommende Katastrophen nicht zur Verfügung. „Unsere besten Spenden für Haiti waren jene, die wir im Vorjahr ungebunden bekommen haben“, sagt Irene Jacsy von Ärzte ohne Grenzen, die die ersten Hilfsmaßnahmen aus dem Nothilfefonds zahlten. Nun sind dank der Welle an Hilfsbereitschaft die Programme in Haiti ausfinanziert. Was nicht heißt, dass die Organisation kein Geld mehr braucht: Der Fonds muss wieder aufgefüllt werden. Erfahrene Spender schreiben also kein zu eng gefasstes Stichwort auf den Erlagschein, sondern vertrauen der Organisation ihrer Wahl beim Einsatz der Mittel.

Denn wie diese Mittel in Haiti eingesetzt werden sollen, ist auch über eine Woche nach dem Beben noch nicht abzusehen. „Niemand hat derzeit schon einen objektiven Überblick über die Lage: Es gibt keine Melderegister, keine Grundbucheinträge, niemand weiß, wie viele Menschen in einem Stadtviertel gelebt haben – und wie viele vermisst werden“, sagt Max Santner. Doch eines ist sicher: Es werden noch sehr viele Spender gebraucht.

Religion im Gericht

Vor kurzem erhitzte ein Skandal-Urteil gegen einen türkischstämmigen Mann die Gemüter, der seine Frau fast getötet hatte: Ihm wurde aufgrund seiner „Herkunft“ eine Strafmilderung zugebilligt. Erstaunlicherweise nützt die Justizministerin die Aufregung nicht, um klarzustellen, dass Herkunft, Religion und Kultur in Strafprozessen nichts verloren haben – sondern tut das Gegenteil und bringt Religion in das Strafgesetz hinein. Ihrem Plan nach sollen „religiöse Motive“ und ein „Gesamtverhalten, das darauf abzielt, jemandem eine Lebensweise aufzuzwingen, die mit unserer Gesellschaft nicht konform ist“ strafverschärfend wirken. Als Beispiel nennt sie Familien, die ihren Kindern Schulbildung oder „Kontakt mit Männern“ verwehren. Die Stoßrichtung ist leicht zu erkennen: Es geht um Muslime. Doch das Strafgesetzbuch gilt für alle. Werden nun strenge Katholiken, die ihre Töchter am „Kontakt mit Männern“ hindern, verschärft bestraft? Gilt für österreichische Familien, die ihre Söhne auf die Uni, ihre Töchter aber in die Lehre schicken, automatisch schwere Nötigung – oder ist das mit „unserer Gesellschaft konform“? Nach den ersten Fällen wird sich die Ministerin wünschen, sie hätte das Naheliegende getan – und Religion und Kultur aus dem Strafgesetzbuch herausgehalten.

Brot und Börse

Weltweit steigen die Lebensmittelpreise, eine neue Nahrungs-Krise ist in Sicht. Mitschuld an der Hausse ist wieder Rohstoffspekulation. FORMAT Nr. 05/10 vom 05.02.2010

In Europa trifft es derzeit notorische Naschkatzen am härtesten: Schokolade könnte 2010 vom Pausenfüller zum Investitionsgut werden. Der Preis für Kakao hat sich seit 2007 verdoppelt, Zucker ist allein 2009 um heftige 127 Prozent teurer geworden (s. Grafik). Die Süßstoffbranche hat den Schuldigen bereits gefunden: „Spekulanten haben sich ein neues Spielfeld gesucht und den Kakao entdeckt“, sagte Sönke Renk von Bahlsen auf der Süßwarentagung in München. Doch was hierzulande noch wie ein Luxusproblem klingt, führt in Entwicklungsländern schon zu Hungerrevolten: Die Lebensmittelpreise, die nach ihrem Allzeithoch im Zuge der Krise gerade erst wieder auf Normalniveau angekommen sind, erleben schon wieder eine rasante Steigerung. „Es ist realistisch, dass die Welt eine Wiederholung der Preisexplosion von 2007/2008 erlebt, die einen scharfen Anstieg der Hungernden auf der Welt verursachte“, warnt die Welternährungsorganisation FAO, deren globaler Nahrungsmittelindex bereits bei über 170 Punkten liegt (s. Grafik). Vor 2007 war er nie über 120 Punkte gestiegen.

Besonders betroffen sind Menschen in ärmeren Ländern, die bis zu 80 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben. „Es kann sein, dass wir wieder Hungerrevolten erleben“, warnt Jacques Diouf, Chef der FAO. In Indien ist es schon jetzt so weit: Allein im Dezember stiegen die Lebensmittelpreise – angefeuert durch eine Dürre – um 20 Prozent. Demonstrationen bringen nun die Regierung in Bedrängnis. „Wir steuern auf eine dramatische Krise zu“, sagt der Präsident des Club of Rome, Ashok Khosla. „Lasst uns realistisch sein, die Nahrungsmittelkrise wird uns erhalten bleiben“, reagierte Premier Mohammed Singh am Dienstag. Auch in Indonesien und auf den Philippinen wird bereits täglich gegen Nahrungsmittelpreise demonstriert. In Afrika ist die Lage noch dramatischer: Im Südsudan hat sich die Zahl der Hungernden vervierfacht, in Kenia brauchen 3,8 Millionen Menschen Lebensmittelhilfe. „Die Menschen verhungern bei vollen Regalen“, sagt eine Helferin. Der letzte Preisanstieg hob die Zahl der Hungernden auf der Welt von 800 Millionen auf 1,02 Milliarden.

Dabei scheint die derzeitige Preissteigerung erst der Anfang zu sein: Nur Zucker, Kaffee und Milchprodukte – wichtige Kalorienlieferanten in ärmeren Ländern – erleben derzeit eine Rally. Die Preise für Getreide hingegen sind 2008 eingebrochen und haben nicht an Fahrt aufgenommen. Doch ein Blick auf die Terminbörsen zeigt: Das könnte sich ändern. Die Futures – Optionen auf den Kauf von Getreide in der Zukunft – zeigen steil nach oben (s. Grafik 3).

Spekulanten als Übeltäter. Das lenkt den Blick auf jene, die schon für den rasanten Preisanstieg 2007 verantwortlich gemacht wurden: die Finanzmärkte. Der Zucker- und der Kakaopreis etwa haben zwar auch natürliche Gründe (wie schlechtes Wetter), werden derzeit aber maßgeblich von Hedgefonds angetrieben. Nun wird Ähnliches für weitere Grundnahrungsmittel befürchtet: Wie 2007 ist enorm viel Geld auf dem Markt – und die Lust, es in die Realwirtschaft und in Aktien zu investieren, hält sich angesichts der flauen Wirtschaftsprognosen in Grenzen. Neben institutionellen Investoren, die direkt an der Terminbörse spekulieren, sind vor allem Index-Fonds ein Problem: Rohstoffindex-Fonds bilden zu 10 bis 30 Prozent Agrar-Rohstoffe ab – und können so ebenfalls die Preise treiben. Robert Zoellick, Chef der Weltbank, warnt: „Mit so viel Liquidität auf den globalen Märkten könnten wir zusätzliche Bewegungen zu den Agrar-Rohstoffen hin sehen, sobald es Anzeichen für Knappheit gibt.“

Und für diese Anzeichen sorgen durchaus die Markt-Macher selbst. Jim Rogers – mit George Soros Begründer der Quantum Fonds und als Gründer des Rogers International Commodities Index ein globaler Rohstoffguru – rät etwa herzlich, in Agrar-Rohstoffe zu investieren: „Wir werden in den nächsten Jahren sehr ernste Nahrungsmittelknappheit auf der ganzen Welt erleben, die Preise werden himmelwärts schießen“, sagte er im US-Sender CNBC. Der kanadische Rohstoffanalyst Eric Roseman rät ebenfalls zum Kauf: „Wachsende Weltbevölkerung und eine Nahrungsmittelproduktion, die nicht nachkommt – die Argumente, in Agrar-Rohstoffe zu investieren, sind angesichts der noch niedrigen Preise zwingend. Es ist die beste Rohstoff-Spekulation der kommenden Dekade.“ Bei jenen, die gegen Hunger kämpfen, lösen solche Empfehlungen Gänsehaut aus. „Der wachsende Appetit der Spekulanten und Index-Fonds nach Agrar-Rohstoffen, mit diesem enormen Liquiditätsexzess im Rücken, verschärft die Situation“, warnt die FAO.

Doch manche der geschmähten Spekulanten wechseln auch die Seite: Diese Woche wird der Hedgefonds-Manager Michael Masters (Masters Capital Management) in Washington im Kapitol auftreten. Er spielt den Kronzeugen für die demokratische Senatorin Maria Cantwell und wird nachweisen, dass sich die Spekulation der Hedgefonds direkt auf die Preise der Nahrungsmittel auswirkt. Cantwells Ziel: die Regulierung der Rohstoffmärkte, um die „schamlose Spekulation“ zu beenden.