Am Gängelband der Hedgefonds

Analyse: Eine Handvoll Zocker-Fonds wettet auf den Bankrott Griechenlands und hält ganz Europa in Atem. Dass sie das dürfen, liegt an politischem Versagen.

Erschienen in NEWS 15.1.2012.

 

Die Verhandlungen über den Schuldenschnitt für Griechenland haben ein Gespenst wiederauferstehen lassen, von dem man in letzter Zeit wenig gehört hat: Die Hedgefonds sind zurück – und sie halten die gesamte Eurozone am Gängelband. Am Freitag scheiterten die Gespräche des Privatsektors mit der griechischen Regierung unerwartet. Der angestrebte Deal: Die privaten Gläubiger, denen Griechenland in Summe 200 Milliarden Euro schuldet, verzichten auf 50 % des Geldes, dafür geht Griechenland vorerst nicht pleite. Das ist für den Rest der Eurozone überlebenswichtig: Denn allein Italien braucht bis April 150 Milliarden Euro vom Finanzmarkt. Der Bankrott eines Euro staates würde das Vertrauen zerstören – und entweder Italien gleich mit in den Bankrott schicken oder zumindest die Zinsen enorm verteuern. Die Folgen wären auch für Österreich dramatisch.

Staatsbankrott als Bonanza.

 Doch in die weit fortgeschrittenen Verhandlungen platzte eine Hiobsbotschaft: Die Hedgefonds weigerten sich, beim freiwilligen Schuldenverzicht mitzumachen. Die offizielle Begründung: Die angebotenen Zinsen seien zu niedrig. Doch für eine ganze Reihe von Hedgefonds ist es überhaupt lukrativer, wenn Griechenland zahlungsunfähig wird. Ein Staatsbankrott wäre für sie ein Bonanza.

Das liegt an fiesen, relativ neuen Finanzpapieren namens CDS (Credit Default Swap). Der Grundgedanke: Mit einem CDS kann sich ein Gläubiger gegen einen Kreditausfall versichern. Zahlreiche Banken, die griechische Anleihen gekauft haben, haben solche Versicherungen abgeschlossen: Geht Griechenland bankrott, bekommen sie die Versicherungssumme ausgezahlt. So weit, so logisch.

Feuerversicherung aufs Haus des Nachbarn.

Doch es gibt einen Haken: Man kann CDS auch auf Anleihen abschließen, die man gar nicht besitzt. Diese Papiere heißen dann „ungedeckte CDS“, und sie sind eine Wette auf den Untergang. Sie werden außerbörslich gehandelt und müssen nirgends registriert werden. Niemand weiß genau, wer sie hält und auf wessen Pleite sie wetten. Ihr Volumen ist so hoch, dass sie niemals bedient werden können – und eine größere Pleite eine Finanzkrise auslösen kann. George Soros nennt sie daher „Massenvernichtungswaffen des Finanzmarktes“. Stephan Schulmeister vergleicht sie mit einer Feuerversicherung, anonym abgeschlossen auf ein Haus im Nachbardorf: Die Verlockung, es anzuzünden, ist groß.

Warum erlaubt es die Politik, auf einen Staatsbankrott zu wetten?

Und genau das haben einige der Hedgefonds offenbar im Sinn. Wer sie sind und wie viele CDS sie abgeschlossen haben, weiß niemand so genau: Selbst die Verhandler geben zu, dass sie bei einem Viertel der griechischen Staatsschulden nicht wissen, wer der Gläubiger ist. Sicher ist nur so viel: Stimmen nicht 90 Prozent der Gläubiger zu, freiwillig auf die Hälfte ihres Geldes zu verzichten, ist Griechenland bankrott. Eine verlockende Perspektive für jene, die daran verdienen können.

Politisches Versagen auf ganzer Linie.

Trotzdem klingen die Buhrufe gegen die anonymen Fonds nun hohl. Denn ihnen die Schuld zu geben greift zu kurz: Was hier offenbar wird, ist ein Versagen der europäischen Politik auf ganzer Linie. Denn: Warum ist es überhaupt erlaubt, Papiere auszugeben, mit denen man auf Staatspleiten wettet? Schon seit 2006, als das Volumen der CDS weltweit explodierte, wurden Regulierungen gefordert. Als ihr Volumen das der gesamten Weltwirtschaft überstieg, war klar, dass Feuer am Dach ist. Erst als die Lehman-Pleite 2008 wegen der quer über den Globus verteilten CDS eine weltweite Finanzkrise auslöste, schworen Kommission und Regierungschefs, zumindest die ungedeckten CDS zu verbieten. Geschehen ist allerdings nichts: Die Finanzlobby verhinderte die Regulierung, die nun erst 2013 in Kraft treten soll – für Griechenland zu spät. Das Bruttovolumen der CDS, die auf Griechenlands Schulden abgeschlossen sind, beträgt 75 Milliarden Dollar. Werden diese Papiere schlagend, lösen sie eine Kettenreaktion wie bei der Lehman-Pleite aus.

Deshalb trickst Europa jetzt: Wenn der Großteil der privaten Gläubiger – denen Griechenland in Summe 200 Milliarden Euro schuldet – „freiwillig“ auf einen Teil seines Geldes verzichtet, dann gilt das nicht als Ausfall. Und dann werden die Kreditausfallsversicherungen CDS auch nicht schlagend. Doch bei diesem Trick wollen die Hedgefonds offensichtlich nicht mitmachen – und halten nun die ganze Eurozone am Gängelband. Schwer fällt es ihnen nicht: Denn auch die Regulierung von Hedgefonds, die 2009 angekündigt wurde, hat bisher nicht stattgefunden. Wir sehen also nur die Rechnung für eine säumige, lobbygetriebene EU- Politik. Die Zeche zahlen allerdings wir alle.

„Hört auf, uns zu retten!“

Report aus dem „Land der Tränen“: Wie die Bevölkerung durch das Sparpaket verarmt. Erschienen in NEWS 24.2.2012.

„Bitte hört auf, uns zu retten. Wir können nicht mehr!“ Evagelia Karageanalel, 65, steht auf dem Syntagma-Platz in Athen und bläst in ihre Trillerpfeife. Drinnen im Parlament wird das neueste Sparpaket in Gesetze gegossen – die Bedingung dafür, dass jene 130 Milliarden aus Europa fließen, die das Land vor dem Bankrott retten sollen. Draußen wogt eine Demonstration, zurückgehalten von einer Phalanx von Polizisten in Gasmasken und Helmen: Denn hier fühlt sich niemand gerettet. „Ich habe seit 1974 als Schneiderin gearbeitet und immer meine Steuern bezahlt. Jetzt wurde meine Pension von 700 auf 500 Euro gekürzt. Ich soll zahlen, damit diese Diebe da drinnen ihre korrupten Geschäfte vertuschen und die Banken bedienen“, sagt Evagelia. Die Pensionistin spricht aus, was die Mehrheit der Griechen denkt: Es reicht. „Ihr rettet uns zu Tode“, steht auf einem Plakat.

In die Rezession gerettet
Als Griechenland vor zwei Jahren mit über 100 Milliarden Euro vor dem Bankrott gerettet wurde, herrschte in Athen noch Erleichterung. Jetzt ist Depression eingezogen: Die vergangenen zwei Jahre haben das Land in eine Spirale aus Pleiten, Arbeitslosigkeit und Rezession gestürzt. Im März müssen wieder 14,5 Milliarden Euro an Anleger ausgezahlt werden – und das gelingt nur mit dem neuen Hilfspaket.

Doch die Privatisierungen stocken, die Strukturreformen schleppen sich, und an der Macht sind dieselben Parteien, die das Schlamassel angerichtet haben. Den Preis zahlt nun die Bevölkerung: Der Mindestlohn wurde um 22 Prozent auf 586 Euro brutto gekürzt (etwa 420 Euro netto). Im Privatsektor sollen die Löhne um 20 Prozent sinken, die Pensionen werden neuerlich beschnitten.

„Es wäre besser, wenn wir endlich bankrottgehen könnten. Denn dann könnten wir einen Schnitt machen und die Staatseinnahmen für Investitionen verwenden“, sagt Vasilis Threpsiadis. Er ist arbeitslos, wie jeder zweite unter 25. Die Baufirma seines Vaters ging im Sommer in Konkurs – einer von 60.000 Betrieben, die 2011 dichtgemacht haben. Heuer, meint der IWF, werden es doppelt so viele sein. Griechenland liegt am Boden, und zu spüren bekommt das nun die Mittelklasse.

15.000 „Neue Obdachlose“
So wie Giorgios Barkouris, 60. Er sitzt in Hof des Obdachlosenheims der Organisation Klimaka. Die dunkle Jacke ist schon leicht zerschlissen, die Wangen eingefallen. Barkouris war Computertechniker und IT-Manager, bis die Krise seinen Job hinwegfegte. Es dauerte nur ein paar Monate, bis die Ersparnisse aufgebraucht waren und er die Miete nicht mehr zahlen konnte.

„Es war ein Schock. Ich hatte einen guten Job, war anerkannt und stand kurz vor der Pensionierung. Und dann schläfst du plötzlich auf Parkbänken und stellst dich in Suppenküchen an. Die Scham hat mich in eine Depression gestürzt.“ Barkouris hat jetzt einen Schlafplatz im Obdachlosenhaus, er kümmert sich um das Einsammeln der Spenden.

„Er ist kein Einzelfall“, sagt die Leiterin Effie Stamatogiannopoulo: „Bis vor einem Jahr kümmerten wir uns ausschließlich um Drogenabhängige und psychisch Kranke. Dann waren da plötzlich Hunderte Menschen auf der Straße, die gesund waren und aussahen wie normale Angestellte.“ Jetzt kommen jeden Abend über 500 hierher, um zu essen und ihre Wäsche zu waschen. „Wir nennen sie die neuen Obdachlosen – es sind mittlerweile über 15.000 allein hier in Athen.“

Die Psychiaterin Eleni Bekiari, die mit 25 Freiwilligen bei Klimaka eine Selbstmord-Hotline betreibt, merkt die Krise am Telefon: „Die Anrufe bei unserer Hotline haben sich im letzten Jahr mehr als verdoppelt. Besonders gefährdet sind Frauen, die ihre Kinder nicht mehr ernähren können, und Männer, deren Unternehmen in Konkurs gegangen sind: Sie sehen keinen Ausweg mehr.“ Erst letzte Woche drohte eine verzweifelte Mutter, sich vom Balkon zu stürzen. Sie hatte ihren Job in einer Kinderbetreuungsstätte verloren – eine von 15.000 Staatsbediensteten, deren Stellen nun gestrichen werden.

Impfungen als Luxus
Besonders betroffen von den Sparmaßnahmen sind Pensionisten und Familien mit Kindern. Das Unterrichtsministerium startet nun ein Ernährungsprogramm für Schulkinder – denn seit einigen Monaten häufen sich Fälle von Kindern, die im Unterricht vor Hunger in Ohnmacht fallen. Und auch das Gesundheitssystem ist dabei, zusammenzubrechen. Wegen der Zahlungsrückstände des Staates weigern sich die Versicherungen, Medikamente zu bezahlen. Die Folge: Immer mehr Griechen wenden sich an Entwicklungshilfe-Organisationen – mitten in Europa.

„Wir betreiben hier eigentlich ein Flüchtlingsheim“, sagt Christina Samartsi von der französischen Hilfsorganisation Medecins du Monde. Sie sitzt im sechsten Stock eines Hauses im ärmlichen Stadtteil Omonia. An den Wänden hängen Fotos aus Afrika. Im Erdgeschoß gibt es eine Ambulanz. „Jeder fünfte Patient ist mittlerweile Grieche. Wir haben hier Leute, denen die Chemotherapie verweigert wird, oder Familien, die mit ihren Kindern kommen: Eine Impfung ist zu einem Luxus geworden.“

Seit Monaten ohne Gehalt
Eine Erfahrung, die auch Moisis Litsis machen muss. Seit 1997 ist er Finanzredakteur für die zweitgrößte Tageszeitung des Landes, „Eletherotypia“. Doch seit Dezember erscheint die Zeitung nicht mehr: Die Büros hinter der blauen Glasfassade sind leer, nur vereinzelt sieht man Journalisten an mitgebrachten Laptops. „Alle 800 Angestellten, darunter über 200 Journalisten, haben seit August kein Gehalt bekommen. Wegen der Krise wurde dem Verlag ein Kredit nicht ausbezahlt“, erklärt Litsis. Seine Kinder kann er nur mehr mithilfe von Verwandten versorgen. Im Versammlungsraum im obersten Stock des Redaktionsgebäudes werden für die Bedürftigsten nun Lebensmittelspenden gesammelt.

Doch die Belegschaft der „Eletherotypia“ ist auch ein Beispiel für die Griechen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen: die Suppenküchen gründen, in Gruppen aufs Land ziehen – oder selbst eine Zeitung drucken. Vergangenen Mittwoch brachten die unbezahlten Redakteure zum ersten Mal eine eigene Ausgabe heraus. Sie verkaufte mehr als das Doppelte der normalen Auflage. „Der Hunger nach unabhängigen Nachrichten ist riesig“, sagt Litsis. „Denn wir sind nicht unschuldig an der Situation Griechenlands: Es gibt eine enge Allianz zwischen den großen Unternehmen, der Politik und den Medien. Seit zwei Jahren heißt es, es gebe keine Alternative zu den Rettungs- und Sparpaketen. Wir haben abweichende Meinungen nie gedruckt. Nun bricht das Land zusammen, und es ist offensichtlich, dass dieser Weg falsch war.“

Bankrott der Demokratie
Eine Einsicht, der sich nun auch immer mehr Politiker stellen. Szenenwechsel auf einen Markt im ärmlichen Stadtteil Santa Barbara: Der Parlamentsabgeordnete Labros Michos spaziert die Stände entlang – und wird auf Schritt und Tritt umarmt. In einem Land, in dem sich die meisten Parlamentarier nicht mehr ohne Polizeischutz auf die Straße trauen, ist das ein außergewöhnliches Bild. Der Grund: Michos hat am vergangenen Sonntag gegen das Sparpaket gestimmt und wurde dafür aus der regierenden Partei Pasok ausgeschlossen. Nun ist er wilder Abgeordneter, einer von 42.

„Das Parlament winkt nur mehr durch, was Brüssel beschlossen hat. Der Premier wurde nicht gewählt, und Deutschlands Finanzminister will nicht nur, dass wir uns über die Wahlen hinaus zum Sparpaket bekennen – er will uns sogar eine große Koalition vorschreiben“, erklärt Michos. „Kein Euro, der jetzt kommt, wird im Land investiert. Sogar unsere Staatseinnahmen gehen auf ein Sperrkonto, um die Schulden zu bedienen. Das ist ein Kampf der Märkte gegen die Demokratie – und derzeit gewinnen die Märkte“.

Die Dissidenten mehrerer Parteien überlegen nun, bei den Wahlen im April mit einer eigenen Liste anzutreten. Das Potenzial ist groß: Die Großparteien erwartet eine historische Wahlniederlage.

Doch bis dahin wird die Sparpolitik durchgezogen. Zurück auf dem Syntagma-Platz: Wieder haben sich Tausende vor dem Parlament versammelt. „Wir vertrauen unseren Politikern nicht mehr, tut ihr es noch?“ steht auf einem Transparent. Die Polizei hat das Studentenviertel Exarchia abgeriegelt. Um die abgebrannten Gebäude, Mahnmale der letzten Aufstände, sind Mannschaftsbusse postiert.

„Sonst haben wir bald Krieg.“
Die Polizei wartet die Abendnachrichten ab, dann beginnt sie, den Platz zu räumen. Ohne Vorwarnung versinkt der Platz in einer Wolke Tränengas. Steine fliegen, Auslagen gehen zu Bruch, junge Anarchisten schlagen den Marmor von den Banken und Hotels und verwenden ihn als Wurfgeschosse. Vereinzelt fliegen Molotowcocktails. Binnen einer Stunde verwandelt sich das Zentrum in ein Schlachtfeld – wie fast jede Woche in Athen. „Es ist ein Wunder, dass noch niemand gestorben ist“, sagt Alexandros später. Der junge Filmemacher hat im Sommer die Bewegung der Empörten mitorganisiert. Nun sieht er sie in Flammen aufgehen. „Die Leute beginnen bereits, sich Waffen zu besorgen. Wenn Griechenland weiter auf diese Weise gerettet wird, haben wir bald Krieg.“

Der Hass auf das Opfer

Die Verschwörungstheorien um mehrere Täter in höchsten Kreisen erzählen mehr über die selbst ernannten Aufklärer als über die Tat – und gehen zu Lasten des Opfers. Erschienen in NEWS 29.02.2012.

Eine berechnende Lügnerin, die Verbrecher deckt und Geld aus ihrem Schicksal schlägt, das sie noch dazu selbst eingefädelt habe: So sieht der ungehemmte Online-Stammtisch Natascha Kampusch. Und leider ist es genau diese Haltung, die bei den Politikern und alten Herren durchzuhören ist, die nun – zum wiederholten Male – den Fall neu aufrollen wollen. Die Verve, mit der sich einige Journalisten, Exjuristen und nun auch Politiker der Aufklärung einer vermeintlichen Verschwörung „bis in höchste Kreise“ widmen, erinnert an die 9/11-Verschwörungstheoretiker. Und kaum einer kommt ohne eine implizite Anschuldigung aus, Natascha Kampusch selbst verschweige Entscheidendes. Aber woher kommen die Zweifel und der kaum verhohlene Hass auf das Opfer?

Eine Erklärung liefert die Theorie vom Glauben an die gerechte Welt. Danach haben Menschen das Bedürfnis, dass jeder bekommt, was er verdient – und verdient, was er bekommt. Wird einem Menschen Unrecht getan, bemüht man sich zunächst, Gerechtigkeit herzustellen: Auch Natascha Kampusch wurde in den ersten Wochen nach ihrer Befreiung mit Mitgefühl überschüttet. Ist das Unrecht aber zu groß, wendet sich das Unbehagen gegen die Opfer: Sie müssen selbst etwas getan haben, um es zu verdienen.

Man kennt das Muster vom Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus. Es mag erklären, warum man Kampusch partout die Schuld in die Schuhe schieben will – wenn schon nicht am Verbrechen (selbst das geschieht), so jedenfalls daran, dass vermeintliche weitere Täter nicht gefasst werden.

Man will nicht glauben, dass der Täter ein Typ von nebenan war. Einer von uns.
Doch warum das beharrliche Festhalten an einer Mehrtäter-Theorie – nachdem fünf Staatsanwaltschaften und Evaluierungskommissionen keine Anhaltspunkte dafür finden konnten und Kampusch selbst nie einen zweiten Täter sah? Und alle Hinweise x-mal durchgekaut und widerlegt wurden? Offenbar können die selbst ernannten Aufklärer und Ermittler die plausibelste Variante nicht wahrhaben: dass ein durchschnittlicher, unauffälliger Mann von nebenan jahrelang ein Kind in seinen Keller gesperrt und grausam ausgebeutet hat. Der Täter – einer von uns? Undenkbar. Denn würde man das zu Ende denken, müsste man das Geschlechterverhältnis allgemein infrage stellen.

Der Fall Kampusch als Projektionsfläche
Ein Indiz dafür ist die Verve, mit der Priklopil als lupenreine Bestie dargestellt wird. Jeder Versuch von Natascha Kampusch, den Täter differenzierter zu zeichnen, wird mit Wut quittiert – oder mit der schnellen Diagnose „Stockholmsyndrom“, die dem Opfer die Urteilskraft abspricht.

Doch Priklopil entspricht dem Klischee nicht, er genügt nicht als Projektionsfläche. Es gibt daher ein tiefes Bedürfnis, die Täter noch böser zu machen: Zumindest ein Pornoring – oder noch lieber eine Verschwörung bis in höchste Kreise von Politik, Polizei und Justiz – muss dahinterstehen. So kann man das Böse von sich wegschieben, auf den Fall Kampusch projizieren – und dabei im eigenen, inneren Keller wegsperren, um sich nicht weiter damit beschäftigen zu müssen.

Gewalt gegen Frauen und Kinder ist ein trauriger, banaler Teil unserer Gesellschaft – weggesperrt hinter den Fassaden biederer Einfamilienhäuser. Geschlagenen Frauen glaubt man nicht oder gibt ihnen selbst die Schuld – das ist nicht nur im Fall Kampusch so.

Doch dieser Fall ist so furchtbar, dass er die perfekte Projektionsfläche bietet: eine Gelegenheit, die allgegenwärtige Gewalt auf einen toten Täter und eine vermeintliche Verschwörung auszulagern, um sich nicht näher mit den Verhältnissen vor der Haustür beschäftigen zu müssen. Nicht umsonst sind es nicht die Aufgeklärteren, die sich dem Fall mit so viel Eifer widmen – sondern durchwegs Patriarchen der guten alten Schule.

Natascha Kampusch hat Ruhe verdient
Betroffen ist, wieder, Natascha Kampusch selbst, die immer noch täglich mit dem Verbrechen konfrontiert – und dafür auch noch angefeindet wird. Es ist wichtig, die Ermittlungsfehler aufzuklären. Es ist auch berechtigt, im Umfeld von Wolfgang Priklopil nach Kinderporno- Ringen oder Mitwissern zu fahnden. Doch es muss Schluss sein damit, das Opfer selbst in Zweifel zu ziehen. Natascha Kampusch hat Gefangenschaft und brutale Gewalt überlebt. Sie hat sich selbst befreit und sich mit der Geschichte intensiv und wiederholt auseinandergesetzt – vor den Behörden und vor der Öffentlichkeit. Wer sie jetzt noch mit längst widerlegten Anschuldigungen anfeindet, macht sie erneut zum Opfer – und sich selbst zum Mittäter.

Griechischer Showdown

Heute läuft für Griechenland die alles entscheidende Frist ab: Um 21.00 wird das Buch geöffnet und nachgesehen, wie viele Halter griechischer Staatsanleihen sich für den freiwilligen Schuldenschnitt angemeldet haben – und so real auf 75% des Wertes ihrer Anleihen verzichten. Der Andrang hält sich in Grenzen. Das Ziel, dass 90 Prozent der Anleihen freiwillig umgetauscht werden, ist in weiter Ferne. Alle Augen sind nun auf die großen Banken und Versicherungen gerichtet, und viele denken offenbar, dass die Pleite Griechenlands abgewendet wäre, wenn der Schuldenschnitt überhaupt zustande kommt.

Doch das ist falsch. Denn gerade, wenn sich mehr als die Hälfte der Schuldner meldet, ist Griechenland offiziell binnen Tagen partiell zahlungsunfähig. Mit allen Folgen, wegen denen dieser geordnete Bankrott seit nun mehr zwei Jahren und Dutzenden Milliarden Hilfsgeldern hinausgeschoben wird.

Die Änderung der Lage kam am 23. Februar. An diesem Tag beschloss das griechische Parlament, dass die Regierung alle Investoren zwingen kann, auf ihre Forderungen zu verzichten – ob sie wollen oder nicht. Die Bedingung dafür ist erfüllt: Die Hälfte der Investoren muss auf die Aufforderung zum Schuldenschnitt geantwortet haben – Mittwoch abend waren es bereits 58 Prozent. Von diesen müssen sich wiederum zwei Drittel dafür aussprechen, dass alle anderen auch zahlen. Dann ist die Freiwilligkeit dahin – die Regierung zwingt zum Schuldenschnitt. Klagen haben keinen Sinn, denn es handelt sich um ein Notstandsgesetz, unangreifbar durch EU-Recht.

Dieser Zwang heißt Collective Action Clauses (CACs) und bereitet der Eurozone seither Kopfzerbrechen: Die griechische Schuldenagentur hat am Dienstag in einer Aussendung klargemacht, dass sie den Zwangsmechanismus einsetzen wird. Und ein Land, das Investoren zum Verzicht zwingt, ist offiziell zahlungsunfähig.

Das hat Folgen: Denn hier kommt ein giftiges Finanzinstrument ins Spiel – die Credit Default Swaps oder CDS. Das sind Versicherungen, die von Banken ausgegeben wurden und bei einem Zahlungsausfall den Verlust ersetzen. Die Nutznießer sind einerseits Investoren, die ihre Anleihen mit CDS abgesichert haben und auf ihre Versicherungsleistung pochen. Andererseits auch Hedgefonds, die CDS gekauft haben, ohne Anleihen zu besitzen – als Wette auf die Pleite. Wie gefährlich CDS werden können, weiß man spätestens seit der Lehman-Pleite 2008, als der Zahlungsausfall einer einzigen Investmentbank wegen der losfeuernden CDS-Maschine eine globale Finanzkrise auslöste. Eine Griechenpleite hätte in etwa dasselbe Volumen an CDS wie damals Lehman – netto nur mehr 2,5 Milliarden Euro. Das ist nicht viel angesichts der Milliarden, die schon in die Bankenrettungen geflossen sind. Aber da niemand weiß, welche Dominosteine fallen werden, ist die Unsicherheit groß.

Ein schönes Beispiel für die möglichen Folgen findet sich in Österreich. Die notverstaatlichte Kommunalkredit hat gleich doppelt auf Griechenland gesetzt – und wird bei einem Zwangsumschuldung eine Milliarde Euro in den Sand setzen. Zu zahlen vom Steuerzahler. Die KA Finanz (Bad Bank der Kommunalkredit) und die Österreichische Volksbanken-AG haben sich am Donnerstag entschlossen, nun doch am Schuldenschnitt teilzunehmen. Die KA ist mit 455 Millionen Euro dabei, die ÖVAG mit 175 Millionen. Laut Generaldirektor Alois Steinbichler hofft die KA Finanz, dass heute noch eine Quote von über 90% der Gläubiger zustande kommt und die griechische Regierung keinen Zwang ausüben muss, doch das ist unwahrscheinlich. Damit hält die KA griechische Anleihen, die nächste Woche auf einen Schlag drei Viertel ihres Wertes verlieren. Und andererseits hat sie fette 500 Millionen CDS: Kreditausfallsversicherungen auf die griechische Pleite, die in dem Moment auszuzahlen sind, in der die Swaps- und Derivate-Vereinigung ISDA den Credit Event ausruft. Das tut sie, sobald der Zwangs-Schuldenschnitt kommt – vermutlich also nächste Woche. Mit Swaps und Nebenkosten beläuft sich dann der Gesamtschaden für die Kommunalkredit (und damit für den Steuerzahler) auf eine Milliarde Euro.

Schuld daran, dass die Kommunalkredit – eigentlich eine Bank, die Gemeinden finanzieren sollte – mithilfe einer Tochter in Zypern Milliarden verspekuliert hat, ist übrigens deren früheres Management unter Reinhard Platzer. Zur Erinnerung: Das ist jener, der nach der Notverstaatlichung 3,5 Millionen Euro Abfertigung forderte. Aber auch damit war er erfolglos.

Griechenland-Krise: Die 10 wichtigsten Antworten

1. Wie sollte der griechische Schuldenschnitt ablaufen?
Der Plan war, über 90 Prozent der Investoren dazu zu bewegen, freiwillig auf 53,6 Prozent des Werts ihrer Anleihen zu verzichten. Rechnet man die Zinsen dazu, beträgt der Verlust satte 74%. Gelingt das bis Donnerstag, werden am Montag 12. März die Anleihen getauscht und danach das 130-Milliarden-Hilfspaket an Athen ausgezahlt, und Griechenland wäre vorerst gerettet.

2. Warum die Eile?
Griechenland müsste am 20. März 14,5 Milliarden Euro an Investoren auszahlen. Dieses Geld ist allerdings nicht vorhanden. Gelingt der Schuldenschnitt nicht vorher, rutscht das Land mit diesem Termin in eine unkontrollierte Pleite.

3. Was, wenn sich weniger als 90% der Investoren beteiligen?
Griechenland hat am 23. Februar ein Gesetz verabschiedet, mit dem unwillige Investoren zum Schuldenschnitt gezwungen werden können. Dazu müssen mehr als die Hälfte auf die Aufforderung zum Schuldenschnitt geantwortet haben – und diese wiederum mit Zweidrittelmehrheit beschließen, dass die anderen unfreiwillig mitmachen müssen. Die erste Bedingung ist bereits erfüllt. Das heißt: Wer nicht freiwillig verzichtet, wird eben dazu gewungen.

4. Wann ist Griechenland technisch pleite, und wer bestimmt das?
Sobald Griechenland Investoren dazu zwingt, auf einen Teil ihres Geldes zu verzichten, ist das Land technisch zahlungsunfähig. Die Feststellung dazu kommt von einer Institution namens ISDA – der International Swaps and Derivatives Association. Diese stellt fest, ob ein „credit event“ eingetreten ist und daher die Kreditausfallsversicherungen CDS ausgezahlt werden.

5. Warum wurde so lange darauf bestanden, den Schuldenschnitt freiwillig zu belassen?
Das liegt am Bemühen, die Kreditausfallsversicherungen CDS nicht schlagend werden zu lassen. CDS lösten nach der Lehman-Pleite 2008 durch einen Dominoeffekt ein Erdbeben aus. Da nicht genau bekannt ist, wer Kreditausfallsversicherungen ausgegeben hat oder hält, sind die Folgen einer Pleite unklar. Die meisten Experten gehen allerdings von glimpflichen Folgen aus – die Banken haben sich auf die Pleite vorbereitet, die Netto-Kosten lägen bei 2,5 Milliarden Euro, zu tragen vor allem von Unicredit und deutschen Banken. Angesichts der bisher schon geflossenen Rettungsmilliarden für Banken ist das verrkaftbar – besonders, weil die Europäische Zentralbank den Banken seit Dezember 1000 Milliarden billiges Geld zugeschossen hat. Besonders betroffen ist allerdings österreichische notverstaatlichte Kommunalkredit: Sie hält fette 500 Millionen an griechischen CDS, die sie im Pleitefall auszahlen müsste.

6. Gewinnen also die Hedgefonds, die auf eine Pleite spekuliert haben?

Aller Wahrscheinlichkeit ja: Denn wenn der ZwangsSchuldenschnitt kommt, werden die Kreditausfallsversicherungen CDS ausgezahlt. Damit verdienen auch jene Hedgefonds Geld, die niemals griechische Anleihen hatten – sondern nur auf die Pleite gewettet haben. Eigentlich wollte die EU solche Wetten (ungedeckte CDS) verbieten, damit ein Euro-Land nicht von solchen Fonds schlechtgeredet wird. Doch das Gesetz scheiterte bisher am Widerstand der Finanzbranche.

7. Kann es sein, dass die Gläubiger zum Schuldenschnitt gezwungen werden – und trotzdem keine Kreditausfallsversicherungen ausgezahlt werden?
Das ist sehr unwahrscheinlich. Sollte es so kommen, ist der Markt für Kreditausfallsversicherungen (CDS) auf Staatsanleihen tot. Davor fürchten sich Spanien und Italien, die ohne Versicherung mehr Zinsen zahlen müssten.

8. Was passiert, wenn Griechenland unkontrolliert pleite geht?
Die Folgen sind schwer abzusehen, da es keine Regeln für den Bankrott von Staaten gibt. Gelingt der Schuldenschnitt nicht, wird auch das Hilfspaket nicht ausgezahlt. Griechenland kann dann keine Rechnungen mehr zahlen. Theoretisch könnte man griechische Besitztümer im Ausland beschlagnahmen – das ist in der EU aber fast unmöglich. Die griechische Wirtschaft würde sofort kollabieren, Griechenland wohl aus der Eurozone ausgeschlossen werden. Besonders betroffen wären Spanien und Italien, die dann nur mehr schwer Geld vom Finanzmarkt bekommen könnten. Doch für so große Länder ist der Euro-Rettungsschirm zu klein.

9. Warum verliert die Kommunalkredit vermutlich eine Milliarde Euro ?
Die verstaatlichte Kommunalkredit – bzw. ihre Nachfolgebank KA Finanz – wollte beim Schuldenschnitt nicht mitmachen. Nun wird sie wohl dazu gezwungen – und ist damit doppelt betroffen: Einerseits hält sie 480 Millionen an Staatsanleihen, die mit einem Schlag drei Viertel ihres Werts verlieren. Andererseits hat sie Kreditausfallsversicherungen (CDS) im Volumen von 500 Millionen ausgegeben, die sie dann auszahlen müsste. Mit Nebenkosten und Swaps summieren sich die Verluste auf eine Milliarde Euro. Da die Bank verstaatlicht ist, müssten das die Steuerzahler berappen.

10. Wie geht es jetzt weiter?
Szenario A: über 90 Prozent der Investoren beteiligen sich am freiwilligen Schuldenschnitt, es gibt keine Zwangsmechanismen. Dann ist Griechenland vorerst gerettet, das zweite Hilfspaket von 130 Milliarden wird ausgezahlt, ein drittes mit 50 Milliarden könnte folgen. Dieses Szenario gilt mittlerweile allerdings als unwahrscheinlich.

Szenario B: Jene Investoren, die sich bis Donnerstag abend am Schuldenschnitt beteiligen, stimmen mit Zweidrittelmehrheit dafür, dass auch andere Anleihenhalter auf ihr Geld verzichten müssen. Dann tritt der Kreditfall ein. Für die Kommunalkredit heißt das eine Milliarde Verlust.