Elinor Ostrom: Ausweitung der Forschungszone

Zum Tod von Elinor Ostrom: Kommentar von 2009 zu ihrem Wirtschafts-Nobelpreis.

„Format“ Nr. 42/09 vom 16.10.2009 Seite: 26
Ressort: Meinung

„Oh, eine Frau“, ist die häufigste Reaktion. „Ich habe bis heute früh noch nie von ihr gehört“, kommentiert die „Business Week“ den Wirtschaftsnobelpreis für die US-Politologin Elinor Ostrom. Die „Financial Times Deutschland“ verlinkt auf die feministische Zeitschrift „Emma“, statt selbst ein Porträt der 77-jährigen Preisträgerin zu schreiben. „Ich bin mit ihrer Forschung nicht vertraut“, bekennt der letztjährige Preisträger Paul Krugman freimütig in seiner Gratulation in der „New York Times“. Dabei hätte ihm die Beschäftigung damit vielleicht eine Antwort auf die Frage seines jüngsten großen Essays gegeben, der fragt: „Wie konnten die Ökonomen so falsch liegen?“

Denn die Auszeichnung Elinor Ostroms ist ein Signal, das weit über die Tatsache ihres Frau-Seins hinausgeht: Sie schlägt eine Bresche in die ermüdende Dichotomie zwischen „Staat“ und „freiem Markt“, in der Politik und Ökonomie nicht erst seit der Krise gefangen sind. Die einen behaupten, der Mensch sei von Natur aus gierig und egoistisch – und wenn das jeder auf einem freien Markt ausleben könne, dann sei das Gemeinwohl gesichert. Die anderen plädieren für staatliche Regeln, Interventionen und Investitionen „von oben“, geplant in großen Modellen. Doch die Krise hat gezeigt: Erst hat die ungebremste Ideologie vom freien Markt die Finanzmärkte in eine Katastrophe geführt. Dann hat der Glaube an den Vater Staat die Gemeinwesen für mehrere Generationen mit Schuldenbergen beladen, ohne auch nur die grundsätzlichen Regeln zu ändern. Nun tobt der Krieg unter den beiden Ökonomen-Lagern „Markt“ und „Staat“ ungehindert weiter: Sie machen sich gegenseitig für die Krise verantwortlich und beschädigen so die Glaubwürdigkeit der gesamten Disziplin.

Doch zwischen den Lagern gibt es, bisher unbeachtet vom Mainstream, andere ökonomische Ansätze. Auf die hat das Komitee in Oslo nun genau im richtigen Moment einen Scheinwerfer gerichtet.

Elinor Ostrom beschäftigt sich mit Commons – zu deutsch Allmenden oder Gemeingütern. Der neoklassische Ansatz dazu ist in der hartnäckigen Legende von der „Tragedy of the Commons“ zusammengefasst – der „Tragödie der Allmende“: Da Menschen egoistisch und gierig seien, würden sie allgemein verfügbare Güter wie Luft, Wasser, Weidegründe erbarmungslos ausbeuten. Die Antwort der Neoklassiker ist Privatisierung. Die Staatsanhänger rufen hingegen nach Gesetzen und Sanktionen, um Allgemeingut zu schützen. Doch Elinor Ostrom hat in unzähligen Feldstudien herausgefunden: Auf der ganzen Welt schaffen es Menschen auch ohne Markt und ohne Staat, mit Gemeingütern so umzugehen, dass sie nicht schonungslos ausgebeutet werden – von Fischern, die sich die Hummergründe aufteilen, über Weidebauern in der Mongolei bis zu kalifornischen Bürgerbewegungen für sauberes Trinkwasser.

Elinor Ostrom zieht drei wichtige Schlüsse:

Der Mensch ist nicht nur von ökonomischer Rationalität getrieben, sondern vor allem ein soziales Wesen.

In vielen Fällen ist Kooperation das bessere Modell als Konkurrenz.

Es gibt keine großen Lösungen – sondern unzählige lokale, die nicht unbedingt auf globaler Ebene funktionieren.

Ostrom hat diese Schlüsse nicht erst gestern gezogen, ihr Hauptwerk „Governing the Commons“ wurde 1990 veröffentlicht. Doch bisher wurde dieser Zweig der Ökonomie von den globalen Politikmachern kaum wahr- und schon gar nicht ernst genommen. Das sollte sich nun ändern. Das erste Versuchsfeld dafür könnte die Klimapolitik sein: Die globalen Versuche, den Klimawandel aufzuhalten, sind bisher auf der einen Seite neoklassisch (die Idee, „Verschmutzungsrechte“ käuflich zu machen und einen Markt dafür zu schaffen), auf der anderen streng etatistisch und keynesianisch (Förderungen und globale Verbote). Beides hat bisher nicht funktioniert. Ostroms Ansätze könnten rechtzeitig vor dem Klimagipfel in Kopenhagen zeigen, dass es weder ein Markt noch einheitliche globale Regeln sein werden, die das Klima retten – und dass es dennoch Lösungen gibt.

Der Nobelpreis für Ostrom ist ein Zeichen einer Zeitenwende: Er ist ein Signal für eine neue Politik, die in ihrem dritten Weg Ansätze für eine Global Governance finden kann, die sich jenseits von freiem Markt oder Weltregierungsfantasien abspielt. Er hat aber auch das Potenzial, Staub in den verkrusteten Strukturen der Ökonomie aufzuwirbeln: Ostrom betreibt Feldstudien, beobachtet echte Menschen in ihren sozialen Systemen – was ihre Kolleginnen und Kollegen daran erinnern könnte, dass die schönste ökonomische Formel nichts nützt, wenn sich die Menschen da draußen nicht an das Modell halten.

Erst danach ist es natürlich auch erfreulich, dass nun erstmals eine Frau den Wirtschaftsnobelpreis gewonnen hat – eine Frau, die in ihrer Jugend mit einem Sprachfehler kämpfte, dann ihr Studium zugunsten ihres studierenden ersten Mannes aufgeben musste und sich mühsam durch die Institutionen kämpfte. Ostrom selbst ist deshalb wohl am erstauntesten über die Auszeichnung. Ihr Preisgeld will sie Studenten spenden.

Spanien: Die Blase platzt (Format, 2007)

Aus aktuellem Anlass nach oben geschupft – Reportage aus Spanien November 2007: Erstmals sinken in Spanien die Wohnungspreise, die größte Immobilienblase Europas droht zu platzen. Wenn die Kreditpyramide einstürzt, ist selbst der Euro in Gefahr.‘, ‚

Spanien: Die Blase platzt (2007)

Aus aktuellem Anlass nach oben geschupft: Reportage von der spanischen Immobilienkrise mit dem Fazit, der Euro sei in Gefahr. Recherhiert im Sommer 2007.

„Format“ Nr. 44/07 vom 02.11.2007
Ressort: Business

Erstmals sinken in Spanien die Wohnungspreise, die größte Immobilienblase Europas droht zu platzen. Wenn die Kreditpyramide einstürzt, ist selbst der Euro in Gefahr.

Es gibt kein Problem“, sagt Guido, spanischer Immobilienmakler, und versucht einen überzeugten Blick. Guido steht vor dem megalomanen Modell neuer Feriensiedlungen von Polaris World weit im Hinterland von Murcia. An die 20.000 Miniatur-Ferienimmobilien reihen sich um neun Golfplätze aus Filz. Etwa ein Zehntel davon ist schon gebaut, 11.000 ab Plan verkauft – und nun stockt das Geschäft. „Wenn Sie jetzt kaufen, schenken wir Ihnen eine Wohnungseinrichtung um 6.000 Euro“, lockt Guido. „Sie brauchen nur Ihre Kredit-karte, mit 3.000 Euro Einstiegszahlung gehört die Wohnung Ihnen“, bettelt er. „Der Preis wird mit Baubeginn so stark steigen, dass Sie in zwei Jahren auf einen Schlag mindestens 30.000 Euro verdienen können“, verspricht Guido, und blickt nun doch verzweifelt.

Denn die Zeiten, in denen spanische Immobilien Geldmaschinen waren, sind vorbei. Nach sagenhaften Preissteigerungen von 20 Prozent pro Jahr seit 2002 weicht nun die heiße Luft in rasantem Tempo aus der Immobilienblase. 800.000 Wohnungen werden derzeit in Spanien pro Jahr gebaut, die meisten davon Ferienwohnungen. Weitere 1,4 Millionen sind allein an den Küsten bereits genehmigt oder in Bau, ganze fünf Millionen sollen in den nächsten fünf Jahren dazukommen. Der Boom hinterlässt ein Meer von schlecht gebauten Häuschen, die jeden Kilometer Küste besetzen und weit ins Hinterland wachsen – und den Großteil des Jahres leer stehen. Die Preise sind in astronomische Höhen gestiegen: Für winzige Zwei-Zimmer-Appartements zahlt man realitätsferne 350.000 Euro.

Doch im September sind erstmals die Preise gefallen, und nun stehen Hunderttausende Investoren aus ganz Europa mit Wohnungen da, die nur gebaut wurden, um sie wieder zu verkaufen – und kämpfen mit steigenden Kreditzinsen und immer öfter mit Zahlungsunfähigkeit.

Können Regierung und Immobilienfirmen das Fallen der Preise nicht bremsen, droht die platzende Blase die gesamte spanische Wirtschaft mitzuziehen: 30 Prozent der Wirtschaftsleistung hängen vom Bausektor ab, der dem Land in den letzten Jahren das stärks-te Wirtschaftswachstum Westeuropas verschaffte. Die spanischen Bau- und Immobilienfirmen stiegen während des Booms zu den größten der Welt auf und kauften sich weltweit in Baufirmen, Ölkonzerne und Banken ein. Doch bereits die ersten Anzeichen für das Ende des Booms haben Opfer gefordert: Im April sackten die Börsenkurse der spanischen Baufirmen auf weniger als die Hälfte ab, institutionelle Investoren wie Pensionsfonds zogen sich zurück. Im Sommer sind bereits zwei Baufirmen auf spektakuläre Weise in Konkurs gegangen. Die Branchenriesen ziehen sich in neue Boom-märkte wie Marokko und Bulgarien zurück.

Am nervösesten sind aber die Banken. Zwar blieben die spanischen Geldinstitute von der US-amerikanischen Kreditkrise weitgehend verschont – das aber nur, weil sie ihr gesamtes Geld in die landeseigene Immobilienblase gesteckt und dafür auf den internationalen Finanzmärkten gehörig Geld aufgenommen haben. Mehr als 900 Milliarden Euro – 60 Prozent des gesamten Kreditvolumens – wurden an Wohnungskäufer, Baufirmen und Immobilienbüros verliehen. Die Wohnungen sind nach Jahren der Preissteigerung um 20 Prozent pro anno extrem überbewertet, die steigenden Zinsen machen es derzeit schon einer halben Million Familien in Spanien fast unmöglich, ihre Kredite zu zahlen.

Besonders betroffen sind junge Leute und Einwanderer, um die bis zum Sommer mit absurden Lockangeboten ge-worben wurde: Hypothekarkredite auf 40 Jahre ohne Einstiegszahlung und mit drei zahlungsfreien Jahren wurden die Regel.

Genau diese Bevölkerungsschicht ist aber vom Ende des Baubooms am meisten betroffen. Jedes nicht gebaute Haus kostet zwei Jobs, rechnet die Bauwirtschaftsvertretung vor. Werden nun nächstes Jahr statt 800.000 nur „nachhaltige“ 500.000 Wohnungen gebaut, bedeutet das 600.000 Arbeitslose mehr auf einen Schlag.

Schlimmer noch: Der Bau-boom baut auf einer Kreditpyramide auf, die mit fallenden Preisen schnell zum Einsturz kommen kann. „Der typische Käufer eines Ferienhauses an der Küste kaufte in den letzten Jahren – oft über Internet – mit einer minimalen Ersteinzahlung von 5.000 bis 10.000 Euro eine Wohnung um etwa 200.000 Euro, um sie bei Fertigstellung um 30.000 teurer zu verkaufen, meist an weitere Wiederverkäufer: Ein bisher risikoloser Gewinn von 50.000 Euro pro Wohnung in kürzester Zeit“, erklärt Miguel Angel Torres, der an der Costa del Sol für Raumplanung zuständig ist. „Jetzt ist das Ende der Kette erreicht, und die letzten Investoren – oft Engländer oder Deutsche, die ihre Wohnung zuhause belastet haben – finden weder Käufer, noch können sie die Kredite bedienen.“ Stürzt die Pyramide ein, könnte das die Stabilität des Euro gefährden, warnte der IWF vor einem Jahr. Nun ist es bald so weit.

Die Angst vor dem Crash macht es jenen wieder leichter, die Schwarzgeld investieren wollen. Vor einem Jahr hatte die spanische Regierung zwar angekündigt, die Geldwäsche und Korruption im Baugewerbe zu bekämpfen – was zur spektakulären Festnahme von über hundert Lokalpolitikern und Bauunternehmern in der „Operation Malaya“ in Marbella führte. Doch aus Angst vor dem Ende des Booms – und damit Wahlverlusten – wird jetzt weniger genau hingesehen: Der Richter im Marbella-Fall wurde ausgetauscht, nur noch drei Angeklagte sind in Haft, und die Ankündigungen der Regierung, den ständigen Strom von Schwarzgeld etwa von deutschen Freiberuflern zu stoppen, scheinen vergessen.

Ebenso die Bemühungen, illegale Bauten zu stoppen: Nach wie vor ist es an den Küsten Usus, erst zu bauen und dann die Genehmigung zu bekommen – mehr als die Hälfte der neueren Immobilien in Andalusien entstanden auf diese Weise. Hauptsache, es wird weiter umgewidmet und ge-baut, scheint das Motto zu sein.

Auf diesem wackligen Untergrund brummt die spanische Bauwirtschaft leiser, aber doch weiter. Die spanische Zentralbank ist jedoch wachsam. Sie zwingt derzeit alle Banken dazu, die Qualität ihrer Hypothekarkredite zu überprüfen – allerdings diskret: Man will nicht den Eindruck erwecken, dass es ein Problem geben könnte. Denn wer sollte sonst auch die Millionen Wohnungen kaufen, auf denen derzeit steht: „For Sale – Urgent“?

Am Gängelband der Hedgefonds

Analyse: Eine Handvoll Zocker-Fonds wettet auf den Bankrott Griechenlands und hält ganz Europa in Atem. Dass sie das dürfen, liegt an politischem Versagen.

Erschienen in NEWS 15.1.2012.

 

Die Verhandlungen über den Schuldenschnitt für Griechenland haben ein Gespenst wiederauferstehen lassen, von dem man in letzter Zeit wenig gehört hat: Die Hedgefonds sind zurück – und sie halten die gesamte Eurozone am Gängelband. Am Freitag scheiterten die Gespräche des Privatsektors mit der griechischen Regierung unerwartet. Der angestrebte Deal: Die privaten Gläubiger, denen Griechenland in Summe 200 Milliarden Euro schuldet, verzichten auf 50 % des Geldes, dafür geht Griechenland vorerst nicht pleite. Das ist für den Rest der Eurozone überlebenswichtig: Denn allein Italien braucht bis April 150 Milliarden Euro vom Finanzmarkt. Der Bankrott eines Euro staates würde das Vertrauen zerstören – und entweder Italien gleich mit in den Bankrott schicken oder zumindest die Zinsen enorm verteuern. Die Folgen wären auch für Österreich dramatisch.

Staatsbankrott als Bonanza.

 Doch in die weit fortgeschrittenen Verhandlungen platzte eine Hiobsbotschaft: Die Hedgefonds weigerten sich, beim freiwilligen Schuldenverzicht mitzumachen. Die offizielle Begründung: Die angebotenen Zinsen seien zu niedrig. Doch für eine ganze Reihe von Hedgefonds ist es überhaupt lukrativer, wenn Griechenland zahlungsunfähig wird. Ein Staatsbankrott wäre für sie ein Bonanza.

Das liegt an fiesen, relativ neuen Finanzpapieren namens CDS (Credit Default Swap). Der Grundgedanke: Mit einem CDS kann sich ein Gläubiger gegen einen Kreditausfall versichern. Zahlreiche Banken, die griechische Anleihen gekauft haben, haben solche Versicherungen abgeschlossen: Geht Griechenland bankrott, bekommen sie die Versicherungssumme ausgezahlt. So weit, so logisch.

Feuerversicherung aufs Haus des Nachbarn.

Doch es gibt einen Haken: Man kann CDS auch auf Anleihen abschließen, die man gar nicht besitzt. Diese Papiere heißen dann „ungedeckte CDS“, und sie sind eine Wette auf den Untergang. Sie werden außerbörslich gehandelt und müssen nirgends registriert werden. Niemand weiß genau, wer sie hält und auf wessen Pleite sie wetten. Ihr Volumen ist so hoch, dass sie niemals bedient werden können – und eine größere Pleite eine Finanzkrise auslösen kann. George Soros nennt sie daher „Massenvernichtungswaffen des Finanzmarktes“. Stephan Schulmeister vergleicht sie mit einer Feuerversicherung, anonym abgeschlossen auf ein Haus im Nachbardorf: Die Verlockung, es anzuzünden, ist groß.

Warum erlaubt es die Politik, auf einen Staatsbankrott zu wetten?

Und genau das haben einige der Hedgefonds offenbar im Sinn. Wer sie sind und wie viele CDS sie abgeschlossen haben, weiß niemand so genau: Selbst die Verhandler geben zu, dass sie bei einem Viertel der griechischen Staatsschulden nicht wissen, wer der Gläubiger ist. Sicher ist nur so viel: Stimmen nicht 90 Prozent der Gläubiger zu, freiwillig auf die Hälfte ihres Geldes zu verzichten, ist Griechenland bankrott. Eine verlockende Perspektive für jene, die daran verdienen können.

Politisches Versagen auf ganzer Linie.

Trotzdem klingen die Buhrufe gegen die anonymen Fonds nun hohl. Denn ihnen die Schuld zu geben greift zu kurz: Was hier offenbar wird, ist ein Versagen der europäischen Politik auf ganzer Linie. Denn: Warum ist es überhaupt erlaubt, Papiere auszugeben, mit denen man auf Staatspleiten wettet? Schon seit 2006, als das Volumen der CDS weltweit explodierte, wurden Regulierungen gefordert. Als ihr Volumen das der gesamten Weltwirtschaft überstieg, war klar, dass Feuer am Dach ist. Erst als die Lehman-Pleite 2008 wegen der quer über den Globus verteilten CDS eine weltweite Finanzkrise auslöste, schworen Kommission und Regierungschefs, zumindest die ungedeckten CDS zu verbieten. Geschehen ist allerdings nichts: Die Finanzlobby verhinderte die Regulierung, die nun erst 2013 in Kraft treten soll – für Griechenland zu spät. Das Bruttovolumen der CDS, die auf Griechenlands Schulden abgeschlossen sind, beträgt 75 Milliarden Dollar. Werden diese Papiere schlagend, lösen sie eine Kettenreaktion wie bei der Lehman-Pleite aus.

Deshalb trickst Europa jetzt: Wenn der Großteil der privaten Gläubiger – denen Griechenland in Summe 200 Milliarden Euro schuldet – „freiwillig“ auf einen Teil seines Geldes verzichtet, dann gilt das nicht als Ausfall. Und dann werden die Kreditausfallsversicherungen CDS auch nicht schlagend. Doch bei diesem Trick wollen die Hedgefonds offensichtlich nicht mitmachen – und halten nun die ganze Eurozone am Gängelband. Schwer fällt es ihnen nicht: Denn auch die Regulierung von Hedgefonds, die 2009 angekündigt wurde, hat bisher nicht stattgefunden. Wir sehen also nur die Rechnung für eine säumige, lobbygetriebene EU- Politik. Die Zeche zahlen allerdings wir alle.

„Hört auf, uns zu retten!“

Report aus dem „Land der Tränen“: Wie die Bevölkerung durch das Sparpaket verarmt. Erschienen in NEWS 24.2.2012.

„Bitte hört auf, uns zu retten. Wir können nicht mehr!“ Evagelia Karageanalel, 65, steht auf dem Syntagma-Platz in Athen und bläst in ihre Trillerpfeife. Drinnen im Parlament wird das neueste Sparpaket in Gesetze gegossen – die Bedingung dafür, dass jene 130 Milliarden aus Europa fließen, die das Land vor dem Bankrott retten sollen. Draußen wogt eine Demonstration, zurückgehalten von einer Phalanx von Polizisten in Gasmasken und Helmen: Denn hier fühlt sich niemand gerettet. „Ich habe seit 1974 als Schneiderin gearbeitet und immer meine Steuern bezahlt. Jetzt wurde meine Pension von 700 auf 500 Euro gekürzt. Ich soll zahlen, damit diese Diebe da drinnen ihre korrupten Geschäfte vertuschen und die Banken bedienen“, sagt Evagelia. Die Pensionistin spricht aus, was die Mehrheit der Griechen denkt: Es reicht. „Ihr rettet uns zu Tode“, steht auf einem Plakat.

In die Rezession gerettet
Als Griechenland vor zwei Jahren mit über 100 Milliarden Euro vor dem Bankrott gerettet wurde, herrschte in Athen noch Erleichterung. Jetzt ist Depression eingezogen: Die vergangenen zwei Jahre haben das Land in eine Spirale aus Pleiten, Arbeitslosigkeit und Rezession gestürzt. Im März müssen wieder 14,5 Milliarden Euro an Anleger ausgezahlt werden – und das gelingt nur mit dem neuen Hilfspaket.

Doch die Privatisierungen stocken, die Strukturreformen schleppen sich, und an der Macht sind dieselben Parteien, die das Schlamassel angerichtet haben. Den Preis zahlt nun die Bevölkerung: Der Mindestlohn wurde um 22 Prozent auf 586 Euro brutto gekürzt (etwa 420 Euro netto). Im Privatsektor sollen die Löhne um 20 Prozent sinken, die Pensionen werden neuerlich beschnitten.

„Es wäre besser, wenn wir endlich bankrottgehen könnten. Denn dann könnten wir einen Schnitt machen und die Staatseinnahmen für Investitionen verwenden“, sagt Vasilis Threpsiadis. Er ist arbeitslos, wie jeder zweite unter 25. Die Baufirma seines Vaters ging im Sommer in Konkurs – einer von 60.000 Betrieben, die 2011 dichtgemacht haben. Heuer, meint der IWF, werden es doppelt so viele sein. Griechenland liegt am Boden, und zu spüren bekommt das nun die Mittelklasse.

15.000 „Neue Obdachlose“
So wie Giorgios Barkouris, 60. Er sitzt in Hof des Obdachlosenheims der Organisation Klimaka. Die dunkle Jacke ist schon leicht zerschlissen, die Wangen eingefallen. Barkouris war Computertechniker und IT-Manager, bis die Krise seinen Job hinwegfegte. Es dauerte nur ein paar Monate, bis die Ersparnisse aufgebraucht waren und er die Miete nicht mehr zahlen konnte.

„Es war ein Schock. Ich hatte einen guten Job, war anerkannt und stand kurz vor der Pensionierung. Und dann schläfst du plötzlich auf Parkbänken und stellst dich in Suppenküchen an. Die Scham hat mich in eine Depression gestürzt.“ Barkouris hat jetzt einen Schlafplatz im Obdachlosenhaus, er kümmert sich um das Einsammeln der Spenden.

„Er ist kein Einzelfall“, sagt die Leiterin Effie Stamatogiannopoulo: „Bis vor einem Jahr kümmerten wir uns ausschließlich um Drogenabhängige und psychisch Kranke. Dann waren da plötzlich Hunderte Menschen auf der Straße, die gesund waren und aussahen wie normale Angestellte.“ Jetzt kommen jeden Abend über 500 hierher, um zu essen und ihre Wäsche zu waschen. „Wir nennen sie die neuen Obdachlosen – es sind mittlerweile über 15.000 allein hier in Athen.“

Die Psychiaterin Eleni Bekiari, die mit 25 Freiwilligen bei Klimaka eine Selbstmord-Hotline betreibt, merkt die Krise am Telefon: „Die Anrufe bei unserer Hotline haben sich im letzten Jahr mehr als verdoppelt. Besonders gefährdet sind Frauen, die ihre Kinder nicht mehr ernähren können, und Männer, deren Unternehmen in Konkurs gegangen sind: Sie sehen keinen Ausweg mehr.“ Erst letzte Woche drohte eine verzweifelte Mutter, sich vom Balkon zu stürzen. Sie hatte ihren Job in einer Kinderbetreuungsstätte verloren – eine von 15.000 Staatsbediensteten, deren Stellen nun gestrichen werden.

Impfungen als Luxus
Besonders betroffen von den Sparmaßnahmen sind Pensionisten und Familien mit Kindern. Das Unterrichtsministerium startet nun ein Ernährungsprogramm für Schulkinder – denn seit einigen Monaten häufen sich Fälle von Kindern, die im Unterricht vor Hunger in Ohnmacht fallen. Und auch das Gesundheitssystem ist dabei, zusammenzubrechen. Wegen der Zahlungsrückstände des Staates weigern sich die Versicherungen, Medikamente zu bezahlen. Die Folge: Immer mehr Griechen wenden sich an Entwicklungshilfe-Organisationen – mitten in Europa.

„Wir betreiben hier eigentlich ein Flüchtlingsheim“, sagt Christina Samartsi von der französischen Hilfsorganisation Medecins du Monde. Sie sitzt im sechsten Stock eines Hauses im ärmlichen Stadtteil Omonia. An den Wänden hängen Fotos aus Afrika. Im Erdgeschoß gibt es eine Ambulanz. „Jeder fünfte Patient ist mittlerweile Grieche. Wir haben hier Leute, denen die Chemotherapie verweigert wird, oder Familien, die mit ihren Kindern kommen: Eine Impfung ist zu einem Luxus geworden.“

Seit Monaten ohne Gehalt
Eine Erfahrung, die auch Moisis Litsis machen muss. Seit 1997 ist er Finanzredakteur für die zweitgrößte Tageszeitung des Landes, „Eletherotypia“. Doch seit Dezember erscheint die Zeitung nicht mehr: Die Büros hinter der blauen Glasfassade sind leer, nur vereinzelt sieht man Journalisten an mitgebrachten Laptops. „Alle 800 Angestellten, darunter über 200 Journalisten, haben seit August kein Gehalt bekommen. Wegen der Krise wurde dem Verlag ein Kredit nicht ausbezahlt“, erklärt Litsis. Seine Kinder kann er nur mehr mithilfe von Verwandten versorgen. Im Versammlungsraum im obersten Stock des Redaktionsgebäudes werden für die Bedürftigsten nun Lebensmittelspenden gesammelt.

Doch die Belegschaft der „Eletherotypia“ ist auch ein Beispiel für die Griechen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen: die Suppenküchen gründen, in Gruppen aufs Land ziehen – oder selbst eine Zeitung drucken. Vergangenen Mittwoch brachten die unbezahlten Redakteure zum ersten Mal eine eigene Ausgabe heraus. Sie verkaufte mehr als das Doppelte der normalen Auflage. „Der Hunger nach unabhängigen Nachrichten ist riesig“, sagt Litsis. „Denn wir sind nicht unschuldig an der Situation Griechenlands: Es gibt eine enge Allianz zwischen den großen Unternehmen, der Politik und den Medien. Seit zwei Jahren heißt es, es gebe keine Alternative zu den Rettungs- und Sparpaketen. Wir haben abweichende Meinungen nie gedruckt. Nun bricht das Land zusammen, und es ist offensichtlich, dass dieser Weg falsch war.“

Bankrott der Demokratie
Eine Einsicht, der sich nun auch immer mehr Politiker stellen. Szenenwechsel auf einen Markt im ärmlichen Stadtteil Santa Barbara: Der Parlamentsabgeordnete Labros Michos spaziert die Stände entlang – und wird auf Schritt und Tritt umarmt. In einem Land, in dem sich die meisten Parlamentarier nicht mehr ohne Polizeischutz auf die Straße trauen, ist das ein außergewöhnliches Bild. Der Grund: Michos hat am vergangenen Sonntag gegen das Sparpaket gestimmt und wurde dafür aus der regierenden Partei Pasok ausgeschlossen. Nun ist er wilder Abgeordneter, einer von 42.

„Das Parlament winkt nur mehr durch, was Brüssel beschlossen hat. Der Premier wurde nicht gewählt, und Deutschlands Finanzminister will nicht nur, dass wir uns über die Wahlen hinaus zum Sparpaket bekennen – er will uns sogar eine große Koalition vorschreiben“, erklärt Michos. „Kein Euro, der jetzt kommt, wird im Land investiert. Sogar unsere Staatseinnahmen gehen auf ein Sperrkonto, um die Schulden zu bedienen. Das ist ein Kampf der Märkte gegen die Demokratie – und derzeit gewinnen die Märkte“.

Die Dissidenten mehrerer Parteien überlegen nun, bei den Wahlen im April mit einer eigenen Liste anzutreten. Das Potenzial ist groß: Die Großparteien erwartet eine historische Wahlniederlage.

Doch bis dahin wird die Sparpolitik durchgezogen. Zurück auf dem Syntagma-Platz: Wieder haben sich Tausende vor dem Parlament versammelt. „Wir vertrauen unseren Politikern nicht mehr, tut ihr es noch?“ steht auf einem Transparent. Die Polizei hat das Studentenviertel Exarchia abgeriegelt. Um die abgebrannten Gebäude, Mahnmale der letzten Aufstände, sind Mannschaftsbusse postiert.

„Sonst haben wir bald Krieg.“
Die Polizei wartet die Abendnachrichten ab, dann beginnt sie, den Platz zu räumen. Ohne Vorwarnung versinkt der Platz in einer Wolke Tränengas. Steine fliegen, Auslagen gehen zu Bruch, junge Anarchisten schlagen den Marmor von den Banken und Hotels und verwenden ihn als Wurfgeschosse. Vereinzelt fliegen Molotowcocktails. Binnen einer Stunde verwandelt sich das Zentrum in ein Schlachtfeld – wie fast jede Woche in Athen. „Es ist ein Wunder, dass noch niemand gestorben ist“, sagt Alexandros später. Der junge Filmemacher hat im Sommer die Bewegung der Empörten mitorganisiert. Nun sieht er sie in Flammen aufgehen. „Die Leute beginnen bereits, sich Waffen zu besorgen. Wenn Griechenland weiter auf diese Weise gerettet wird, haben wir bald Krieg.“

Der Hass auf das Opfer

Die Verschwörungstheorien um mehrere Täter in höchsten Kreisen erzählen mehr über die selbst ernannten Aufklärer als über die Tat – und gehen zu Lasten des Opfers. Erschienen in NEWS 29.02.2012.

Eine berechnende Lügnerin, die Verbrecher deckt und Geld aus ihrem Schicksal schlägt, das sie noch dazu selbst eingefädelt habe: So sieht der ungehemmte Online-Stammtisch Natascha Kampusch. Und leider ist es genau diese Haltung, die bei den Politikern und alten Herren durchzuhören ist, die nun – zum wiederholten Male – den Fall neu aufrollen wollen. Die Verve, mit der sich einige Journalisten, Exjuristen und nun auch Politiker der Aufklärung einer vermeintlichen Verschwörung „bis in höchste Kreise“ widmen, erinnert an die 9/11-Verschwörungstheoretiker. Und kaum einer kommt ohne eine implizite Anschuldigung aus, Natascha Kampusch selbst verschweige Entscheidendes. Aber woher kommen die Zweifel und der kaum verhohlene Hass auf das Opfer?

Eine Erklärung liefert die Theorie vom Glauben an die gerechte Welt. Danach haben Menschen das Bedürfnis, dass jeder bekommt, was er verdient – und verdient, was er bekommt. Wird einem Menschen Unrecht getan, bemüht man sich zunächst, Gerechtigkeit herzustellen: Auch Natascha Kampusch wurde in den ersten Wochen nach ihrer Befreiung mit Mitgefühl überschüttet. Ist das Unrecht aber zu groß, wendet sich das Unbehagen gegen die Opfer: Sie müssen selbst etwas getan haben, um es zu verdienen.

Man kennt das Muster vom Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus. Es mag erklären, warum man Kampusch partout die Schuld in die Schuhe schieben will – wenn schon nicht am Verbrechen (selbst das geschieht), so jedenfalls daran, dass vermeintliche weitere Täter nicht gefasst werden.

Man will nicht glauben, dass der Täter ein Typ von nebenan war. Einer von uns.
Doch warum das beharrliche Festhalten an einer Mehrtäter-Theorie – nachdem fünf Staatsanwaltschaften und Evaluierungskommissionen keine Anhaltspunkte dafür finden konnten und Kampusch selbst nie einen zweiten Täter sah? Und alle Hinweise x-mal durchgekaut und widerlegt wurden? Offenbar können die selbst ernannten Aufklärer und Ermittler die plausibelste Variante nicht wahrhaben: dass ein durchschnittlicher, unauffälliger Mann von nebenan jahrelang ein Kind in seinen Keller gesperrt und grausam ausgebeutet hat. Der Täter – einer von uns? Undenkbar. Denn würde man das zu Ende denken, müsste man das Geschlechterverhältnis allgemein infrage stellen.

Der Fall Kampusch als Projektionsfläche
Ein Indiz dafür ist die Verve, mit der Priklopil als lupenreine Bestie dargestellt wird. Jeder Versuch von Natascha Kampusch, den Täter differenzierter zu zeichnen, wird mit Wut quittiert – oder mit der schnellen Diagnose „Stockholmsyndrom“, die dem Opfer die Urteilskraft abspricht.

Doch Priklopil entspricht dem Klischee nicht, er genügt nicht als Projektionsfläche. Es gibt daher ein tiefes Bedürfnis, die Täter noch böser zu machen: Zumindest ein Pornoring – oder noch lieber eine Verschwörung bis in höchste Kreise von Politik, Polizei und Justiz – muss dahinterstehen. So kann man das Böse von sich wegschieben, auf den Fall Kampusch projizieren – und dabei im eigenen, inneren Keller wegsperren, um sich nicht weiter damit beschäftigen zu müssen.

Gewalt gegen Frauen und Kinder ist ein trauriger, banaler Teil unserer Gesellschaft – weggesperrt hinter den Fassaden biederer Einfamilienhäuser. Geschlagenen Frauen glaubt man nicht oder gibt ihnen selbst die Schuld – das ist nicht nur im Fall Kampusch so.

Doch dieser Fall ist so furchtbar, dass er die perfekte Projektionsfläche bietet: eine Gelegenheit, die allgegenwärtige Gewalt auf einen toten Täter und eine vermeintliche Verschwörung auszulagern, um sich nicht näher mit den Verhältnissen vor der Haustür beschäftigen zu müssen. Nicht umsonst sind es nicht die Aufgeklärteren, die sich dem Fall mit so viel Eifer widmen – sondern durchwegs Patriarchen der guten alten Schule.

Natascha Kampusch hat Ruhe verdient
Betroffen ist, wieder, Natascha Kampusch selbst, die immer noch täglich mit dem Verbrechen konfrontiert – und dafür auch noch angefeindet wird. Es ist wichtig, die Ermittlungsfehler aufzuklären. Es ist auch berechtigt, im Umfeld von Wolfgang Priklopil nach Kinderporno- Ringen oder Mitwissern zu fahnden. Doch es muss Schluss sein damit, das Opfer selbst in Zweifel zu ziehen. Natascha Kampusch hat Gefangenschaft und brutale Gewalt überlebt. Sie hat sich selbst befreit und sich mit der Geschichte intensiv und wiederholt auseinandergesetzt – vor den Behörden und vor der Öffentlichkeit. Wer sie jetzt noch mit längst widerlegten Anschuldigungen anfeindet, macht sie erneut zum Opfer – und sich selbst zum Mittäter.