Sarrazin schafft Deutschland ab – und trotzdem fehlt die Debatte‘

Corinna Milborn zum Streit um Thilo Sarrazins Buch ‚Deutschland schafft sich ab‘. NEWS Nr. 35/10 vom 02.09.2010, Ressort: Meinung.

Thilo Sarrazin, deutscher Bundesbanker und SPD-Politiker, hat ein Buch geschrieben, das für sich genommen keiner Diskussion würdig wäre. Die Hauptthesen in „Deutschland schafft sich ab“ lauten zusammengefasst: 1. Muslime seien dümmer – genetisch oder kulturell bedingt, was für Sarrazin dasselbe zu sein scheint; 2. Muslime vermehrten sich stärker und vererbten dabei ihre Dummheit; und damit schaffe sich 3. das „deutsche Volk“ ab. Sarrazin garniert dies mit einem so haarsträubenden Gemisch aus halbzitierten Statistiken und rassistischen Ausfällen, dass er damit seine These der naturgegeben klugen Deutschen am eigenen Beispiel glatt widerlegt.

Doch das Buch sticht in ein Wespennest – und darum muss es diskutiert werden. Zuwanderer und ihre Nachkommen werden, besonders wenn sie an Religion oder Hautfarbe erkennbar sind, auch nach 50 Jahren noch als einheitlicher Block von „Fremden“ gesehen, die tagtäglich diskriminiert werden, um deren Probleme sich die Politik jedoch nicht weiter kümmert. Das hat zu einer tiefen Spaltung geführt. Die Situation ist tatsächlich explosiv – und niemand außer den Sarrazins kümmert sich darum.

Sarrazin macht sich also im Vakuum breit, das jener untätige politische Mainstream geschaffen hat, der sich nun über seinen Rassismus echauffiert. Es ist dasselbe Vakuum, das Debatten über türkische Aufschriften auf Milchpackerln und Plakate zur Verteidigung des „Wiener Bluts“ ermöglicht. Denn die Politik hat simple Fakten über Jahrzehnte ignoriert:

1. Deutschland und Österreich sind Zuwanderungsländer – und das nicht erst seit gestern.

2. Die Zuwanderung wird steigen müssen, sonst brechen die Sozialsysteme zusammen. Die Statistik Austria etwa rechnet sich das Pensionssystem schön, indem sie auf 37.000 Zuwanderer netto pro Jahr zählt – bis zum Jahr 2050.

3. Selbst wenn man sie aufhalten will: Zuwanderung findet statt – wenn nicht legal, dann illegal.

4. Deutschland und Österreich sind längst nicht mehr jenes homogen weiße, christliche Gebilde, das Sarrazin als „Volk“ sieht – sondern gemischte Gesellschaften, deren Kultur sich fließend ändert.

5. Europäische Werte sind weder genetisch bedingt noch an Religionen festzumachen – sondern heißen „Freiheit, Gleichheit, Solidarität“ und finden in den Menschenrechten Ausdruck. Und diese unterscheiden nicht nach Herkunft.

Wer von Zuwanderern Anpassung an europäische Werte will, der muss sie ernst nehmen und sie ihnen zuerst zugestehen. Eine Zuwanderungsgesellschaft braucht klare Regeln für alle, Chancengleichheit, geordnete Einwanderung. Das alles fehlt. Genau deshalb driften Muslime dritter Generation, die immer noch als „Ausländer“ gesehen werden, in radikale Moscheen ab. Genau deshalb haben türkischstämmige Kinder schlechtere Schulnoten. Und deshalb läuft Zuwanderung teilweise über illegale Umwege ab – und wird bald schmerzlich fehlen.

Leider ruft Sarrazins Buch die üblichen Reflexe hervor: Die einen nehmen es zum Anlass, jede Kritik an der Einwanderungspolitik auf Rassismus zu reduzieren. Die anderen fühlen sich in ihrem Unbehagen bestätigt und sind mangels vernünftiger Vorschläge geneigt, Sarrazins Thesen zu folgen. Und jenen Fundamentalisten, die Sarrazin vorgeblich kritisiert, verschafft er einen Schwung neuer, frustrierter Mitglieder.

Was schon wieder fehlt, ist eine vorurteilsfreie Debatte darüber, wie man – auf dem Boden europäischer Werte – eine Zuwanderungsgesellschaft organisiert. Sie muss stattfinden, sonst gibt es bald viele Sarrazins. Und wer dessen Thesen folgt, schafft Deutschland (und Österreich) wirklich ab: Eine Politik der geschlossenen Grenzen ließe die Sozialsysteme zusammenbrechen und wäre nur durchsetzbar, wenn man die europäischen Werte aufgibt.

Was bliebe dann noch übrig? Ein weißes Greisenvolk hinter Stacheldraht, ausgewählt nach Stammbaum und Religion. Und das will wohl niemand.