Wohin mit dem Atommüll?

Gorleben. Deutschland erlebt den entschlossensten Protest gegen Atomenergie in der Geschichte der Castor-Transporte. Probleme. Es gibt keine seriösen Endlagerungsplätze für Atommüll. Ein Risikoforscher klärt über die Gefahren auf. Von B. Kellhofer, C. Milborn. NEWSNr. 45/10 vom 11.11.2010

Es war der längste Castor-Transport der Geschichte. Angeheizt vom Beschluss der deutschen Regierung, die Laufzeit der Atomkraftwerke zu verlängern, fanden sich so viele Demonstranten wie noch nie ein. 92 Stunden waren die elf Castor-Behälter mit hochradioaktivem Atommüll von der französischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague ins Zwischenlager Gorleben unterwegs. Nun sind sie abgezogen: 25.000 Demonstranten, die Schienen und Straßen tagelang besetzten, 17.000 Polizisten, die sie von dort wieder wegtrugen. Die weißen Behälter mit dem tödlichen Müll haben ihre Fahrt zum Salzstock Gorleben beendet. Nun, denkt die große Mehrheit, lagern sie dort – tief unter der Erde.

Doch das ist falsch. Die Fahrt der elf Castoren endete nicht in den unterirdischen Tunneln des Salzstockes, sondern ein paar Hundert Meter weiter in einer unscheinbaren, fabriksähnlichen Lagerhalle, die ganzjährig wie eine Militärbasis überwacht wird. Kein Verantwortlicher sagt von sich aus, dass der Salzstock gar nicht das Ziel der Castor-Transporte ist. Doch tatsächlich liegt kein einziger der mittlerweile 102 Behälter mit Atommüll unter der Erde. Denn für die nächsten 30 Jahre soll die tödliche Fracht oberirdisch auskühlen oder besser: ausglühen. Was dann geschieht, weiß niemand: Nach 56 Jahren Atomkraft gibt es kein Endlager für die tödlichen Abfälle – weltweit.

Noch am Tag der verspäteteten Ankunft der Castoren hat die deutsche Regierung beschlossen, erneut zu prüfen, ob der Salzstock Gorleben für die Endlagerung überhaupt geeignet ist. Das erforscht man seit 1986 – mit unterschiedlichen Ergebnissen, je nach politischer Lage. Doch selbst wenn man in 30 Jahren den Müll dorthin verladen will: In den derzeitigen Behältern kann er nicht bleiben – und es gibt noch gar kein Verfahren, wie er daraus befreit werden könnte.

Das gesamte Unterfangen ist ein gesundheitsgefährdender politischer Drahtseilakt. Das macht die Deutschen wütend. Und diese Wut entlud sich heuer so stark wie nie.

Erfolgreiche Proteste. Umweltschützer, Traktorenkolonnen und Schafherden der Bauern aus der Region, Familien mit Kinderwägen und Aktivisten, die schon in den 80er-Jahren gegen Atomstrom protestierten, taten alles, um den Transport so langsam und teuer wie möglich zu machen. 25 Millionen Euro hat der Einsatz gekostet, 78 verletzte Polizisten, etwas über 1.000 verletzte Demonstranten. Doch der Protest verlief friedlich. Dr. Reinhard Uhrig, der mit einer Gruppe von Aktivisten vor Ort war, erzählt: „Es hat beinahe Festivalcharakter. Wir campen abends gemeinsam auf den Feldern.“ Auch Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) lobte die „insgesamt friedliche Stimmung“. Doch eine Lösung? Die ist nicht in Sicht.

Wohin mit dem Atommüll? Denn niemand weiß, wo der radioaktive Mist sicher aufbewahrt werden kann, ohne mit seiner unsichtbaren, tödlichen Strahlung die umliegende Biosphäre zu bedrohen. Wolfgang Kromp, Risikoforscher an der Uni Wien, präzisiert: „Alle Vorschläge aus der Vergangenheit wurden wieder verworfen. Früher galt Salz als die richtige Umgebung für Atommüll, dann Beton, dann Granit. Doch nichts davon hält stand. Die Problematik bei jeder Lagerung ist die Durchlässigkeit des Gesteins für Wasser.“ Denn sickert nur ein geringer Anteil des strahlenden Sondermülls ins Grundwasser oder in Flüsse, sind die Folgen für Mensch und Natur nicht abzusehen. Außerdem ist das Problem nicht in Jahren und nicht in Jahrzehnten zu lösen. Die Halbwertszeit von radioaktiven Stoffen ist lang. In Menschenleben gemessen, sehr lang.

Weder am Mond noch in der Arktis. Plutonium beispielsweise zerfällt erst nach 25.000 Jahren zur Hälfte. Eine so langfristige geologische Planung ist für keine der angedachten Endlagerplätze möglich. „Niemand kann abschätzen, wie sich Gesteinsschichten in 2.000 Jahren verhalten werden, ob dann Wasser in die Lagerstätten durchsickert oder nicht.“ Eine sichere Endlagerung gibt es nicht. Dabei haben Forscher alle nur denkbaren Varianten durchgespielt: Raketen zum Mond oder zur Sonne schicken, den Atommüll im Eis der Arktis oder unter dem Meeresgrund vergraben. „Alles Unsinn“, so Risikoforscher Kromp, „in der Arktis schmilzt jetzt schon das Eis, und ein Raketenfehlstart mit radioaktivem Material an Bord würde den halben Planeten kontaminieren.“ Ein Mikrogramm Plutonium genügt, um tödlichen Krebs auszulösen.

Das angebliche Ziel der Castor-Transporte – der Salzstock in Gorleben – wird also nie zum Endlager werden, meinen Risikoforscher. Doch die Züge rollen weiter, und die Politik lässt sich davon nicht bremsen: Europas Regierungen setzen auf den Ausbau der Atomkraft. Derzeit sind 54 AKWs in Bau oder in Planung. Mit Protesten ist zu rechnen – spätestens, wenn es um den Müll geht.