FPÖ: Die Wahlhelfer des H.-C. Strache

Heil Hitler. Fotos belegen, wie blaue Wahlhelfer die Hand zum Hitlergruß heben. Ein Blick hinter die Kulissen der Strache-Partei. Von K. Kuch, C. Milborn. NEWS Nr. 37/10 vom 16.09.2010

Jürgen D. und Melanie G. sind in der Wiener FPÖ fest verankert. Beide sind regelmäßig als Wahlhelfer für die Partei tätig, kennen Parteichef Heinz-Christian Strache persönlich und engagieren sich für die Sache der Freiheitlichen, wo sie nur können. Sie verteilen Luftballons und Flugblätter, jubeln für den Parteichef und tragen stolz FPÖ-Jacken und -T-Shirts. Doch Jürgen D. und Melanie G. haben ein Problem: einen Datenträger, voll mit Fotos, die die beiden Strache-Fans in eindeutigen Posen bei nationalsozialistischer Wiederbetätigung zeigen.

Hitlergruß und Strache-Werbung. Das Potpourri der Bilder ist bunt gemischt: Die NEWS vorliegenden Aufnahmen sind am Rapid-Platz, bei FPÖ-Veranstaltungen, in privaten Räumlichkeiten und an der Alten Donau entstanden. Die Bilder zeigen Melanie G. mit Heinz-Christian Strache, Jürgen D. im Wahlkampfeinsatz für die FPÖ, die Mutter von Melanie G. beim Verunstalten eines Faymann-Plakates und beim Hitlergruß. Sie zeigen Skinheads, Neonazis und Hooligans aus dem Umfeld von Jürgen D. und Melanie G. ebenso wie Bilder der Wahlkampfhelfer mit FPÖ-Politikern wie Heinz-Christian Strache und Barbara Rosenkranz.

Unzweifelhaft ist: Der Hitlergruß ist eine strafrechtlich relevante Tat nach dem Verbotsgesetz. Jürgen D. und Melanie G. – für die die Unschuldsvermutung gilt und deren Gesichter von NEWS daher unkenntlich gemacht wurden – stehen nun im Verdacht des Verstoßes gegen das NS-Verbotsgesetz.

Kontakte quer durch die Partei. Jürgen D., im Zivilberuf „System Engineer“ bei einer Wiener IT-Firma, gibt bei den Internetplattformen Facebook und Xing viel preis. Aufgrund seiner Facebook-Kontakte lässt sich minutiös nachvollziehen, wen er in der FPÖ, bei der deutschen NPD oder sogar im Hooligan-Bereich als Facebook-Freund kennt. Darunter sind beispielsweise: die FP-Präsidentschaftskandidatin Barbara Rosenkranz und deren Kinder Alwine und Volker; der EU-Abgeordnete Andreas Mölzer und dessen Sohn Wendelin; die FPÖ-Abgeordneten Norbert Hofer, Bernhard Vock, Christian Höbart und Werner Neubauer; der Kärntner FPK-Politiker Uwe Scheuch; die Brüder Johann, Clemens und Markus Gudenus; der oberösterreichische Landesrat Manfred Haimbuchner; der Linzer FP-Stadtrat Detlef Wimmer; der Vorarlberger FP-Klubchef Dieter Egger; der Wiener Alt-FP-Mann Hilmar Kabas; Helwig Leibinger aus der FP-Akademie; der burgenländische FP-Chef Johann Tschürtz und sogar der Chef der deutschen NPD, Udo Voigt. Selbst Kontakte aus der Wiener Hooligan-Szene fehlen nicht.

Bezeichnend ist auch, an welchen Veranstaltungen der FPÖ-Wahlhelfer Jürgen D. teilnimmt: Abgesehen von FPÖ-Events, Burschenschaftertreffen, Totengedenken des Wiener Korporationsringes und Rapid-Spielen stechen auch Matches des Unterligavereins Hellas Kagran ins Auge. Präsident ist dort der Dritte Nationalratspräsident Martin Graf (FPÖ).

D. selbst gibt auf der Internetplattform Xing an, dass er bei der Verbindung „Rugia Eisgrub zu Wien“ sei. Kurzum: Seine Kontakte und Aktivitäten reichen quer über das ganze Spektrum des blauen Lagers, wobei nach rechts außen scheinbar keine Grenzen gesetzt werden.

Bis zuletzt dabei. NEWS hat FPÖ-Chef Strache bei seinen Wahlkampfauftritten der Vorwoche begleitet. Jürgen D. war dabei in der Lugner City und am Viktor-Adler-Markt zu sehen, wobei er in Favoriten die FPÖ-Jacke trug. Melanie G. hingegen war beim blauen Fest im Wiener Rathaus zugegen – auch sie mit der FP-Jacke. Zudem belegen zahlreiche NEWS vorliegende Fotos, dass beide bereits in früheren Wahlkämpfen für die FPÖ aktiv waren.

Kontakt mit Strache? – „Kein Kommentar.“ NEWS kontaktierte Jürgen D. diesen Dienstag telefonisch, um ihm ein Statement zu den Nazifotos und seinem FPÖ-Engagement abzuringen. Seine Auskunftswilligkeit war jedoch enden wollend: „Kein Kommentar.“

Auf Nachfrage, ob er noch persönlichen Kontakt mit FPÖ-Chef Strache halte, sagt D.: „Auch kein Kommentar.“ Und auf die Frage, ob die „Heil Hitler“-Fotos etwa das Ergebnis einer „besoffenen Geschichte“ seien, antwortet D. ebenso einsilbig: „Kein Kommentar.“

Straches Kameradin

Braune Wahlhelfer. Die FPÖ bezeichnet die NEWS-Enthüllung von Neonazis als FP-Wahlhelfer als \’falsch\‘. Zahlreiche Fotos beweisen freilich das Gegenteil. Von K. Kuch, C. Milborn. NEWS Nr. 38/10 vom 23.09.2010.

Harald Vilimsky, Sprachrohr von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, war vorigen Mittwoch kaum zu bremsen. Auf die NEWS-Enthüllung von blauen Wahlkampfhelfern, die die rechte Hand zum Hitlergruß hoben, reagierte er, wie man es von einem altgedienten Parteifunktionär erwarten darf: mit Realitätsverweigerung.

Es handle sich um eine „Inszenierung“ von NEWS, das „die FPÖ in die Nähe von Rechtsaußengruppen rücken“ wolle, so Vilimsky. Zitat: „Jetzt versucht es NEWS damit, die FPÖ mit irgendwelchen Personen, die auf freien Versammlungen anwesend waren, in die Ecke zu drängen.“

Mit „irgendwelche Personen“ meint Vilimsky Jürgen D., Melanie G. und deren Mutter Margit G. Alle drei waren in NEWS in Pose mit Hitlergruß zu sehen.

Alle drei sind in der FPÖ nicht „irgendwer“. Sie halfen in zahlreichen Wahlkämpfen, engagierten sich für die Partei, kämpften gegen die Moschee in der Dammstraße und hatten bis zur NEWS-Enthüllung Kontakt zu zahlreichen Parteigrößen. In der FPÖ Wien weiß man das nur zu gut, wie eine NEWS vorliegende Mail von Andreas Guggenberger, Landesgeschäftsführer der FPÖ Wien, beweist. Gleich nach der NEWS-Enthüllung verschickte er an zahlreiche FP-Funktionäre eine Mail, in der er Jürgen D., Melanie G. und deren Mutter Margit mit vollem Namen nennt (Anm. d. Red.: Den Vornamen von G.s Mutter hatte NEWS gar nicht publik gemacht). Diese detaillierte E-Mail aus der Wiener FP-Zentrale wäre wohl kaum möglich gewesen, wenn es sich bei dem braunen Trio nicht um langjährige Parteigänger gehandelt hätte.

Der eilige Versuch, schnellstmöglich Distanz zu Melanie G. und den anderen hitlergrüßenden Kameraden zu gewinnen, hat gute Gründe. Denn selbst Parteichef Heinz-Christian Strache kennt Melanie G. seit Jahren persönlich (siehe Fotos links).

Kameradin Melanie und H.-C. NEWS liegen zahlreiche Fotos vor, die über einen Zeitraum von fünf Jahren aufgenommen wurden. Sie zeigen die junge Melanie G., damals noch mit blondem Haar, zwischen Strache und der Ex-FP-Präsidentschaftskandidatin Barbara Rosenkranz.

Weitere Bilder zeigen Melanie G. mit Strache im Wahlkampf, beim vertraulichen Tête-à-tête mit dem Kopf auf Straches Schulter und beim Wirtshausbesuch mit dem FPÖ-Chef. Auch mit der vorbestraften steirischen Rechts-Auslegerin der FPÖ Susanne Winter ließ sich Melanie G. fotografieren. Es existiert sogar ein Bild von Melanies Eltern, das diese gemeinsam mit Strache im berühmt-berüchtigten Keller des Rings Freiheitlicher Jugend (RFJ) zeigt (siehe Bild rechts). NEWS veröffentlichte vorige Woche ein Foto von Margit G., das diese beim Hitlergruß vor einem Faymann-Plakat zeigt.

Tochter Melanie wiederum posiert mit Hitlergruß vor einer Deutschland-Fahne. Mit derselben Fahne ließen sich Freunde von Melanie G. auch im RFJ-Keller ablichten, wie der Bildhintergrund unzweifelhaft belegt (siehe Fotos unten). Selbst im einschlägig bekannten Stüber-Heim in Ottakring ließen sich Melanie G. und ihre Kameraden ablichten (siehe Fotos oben).

Hardliner Jürgen D. Ähnliches gilt für Jürgen D., der jahrelang für die Freiheitlichen aktiv war. Die NEWS vorliegenden Fotos belegen eindrucksvoll, wie er sich in der rechtsextremen Szene, aber auch in der Wiener FPÖ engagierte. D., von dem bis zur NEWS-Enthüllung auch Bilder auf der Homepage der Fachstudentenschaft Rugia Eisgrub zu Wien zu sehen waren, hat einen politischen Aktionsradius, der von burschenschaftlichen Kreisen über radikale Fußballfans bis hin zu Rechtsextremisten reicht.

Auf D.s Facebook-Profil, das nach der NEWS-Enthüllung prompt gelöscht wurde, ließ sich minutiös nachvollziehen, wie weit seine Verankerung in der FPÖ gediehen war: Gleich vier blaue Nationalratsabgeordnete zählten zu seinen Facebook-Freunden, dazu der EU-Politiker Andreas Mölzer, zahlreiche FPÖ-Mitarbeiter und Landes- und Gemeindepolitiker. Dasselbe Bild gab D.s Veranstaltungskalender wieder: Zahlreiche FPÖ-Events und Burschenschaftertreffen geben einen offenherzigen Einblick in die politische Tätigkeit des Jürgen D.

Auch als NEWS Strache beim Wahlkämpfen begleitete, konnte D. beim innigen Gespräch mit Udo Guggenbichler, Chef des Österreichischen Pennäler Ringes und Bezirksparteivorsitzender der FPÖ in Wien-Währing, beobachtet und fotografieret werden. Dass Jürgen D. dabei eine FPÖ-Jacke trug, sei nur am Rande erwähnt.

Die Mär von FP-Sprecher Harald Vilimsky, wonach es sich bei Jürgen D., Melanie G. und deren Mutter Margit um „irgendwelche Personen“ handle, die Teil einer von NEWS inszenierten Verschwörung seien, ist damit wohl hinreichend widerlegt.

Stuttgart 21: Wenn Bürger sich die Entmündigung nicht gefallen lassen

Corinna Milborn über den neuen Widerstandswillen der Deutschen und seine Folgen. NEWS Nr. 40/10 vom 07.10.2010. Ressort: Meinung.

Bei Versailles hat auch keiner nach den Kosten gefragt.“ Dieser Satz entwischte dem CDU-Innenminister von Baden-Württemberg, Heribert Rech, bei einer Landtagsdebatte zum umkämpften Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“. Besser hätte jener Minister, der für den Polizeieinsatz am vergangenen Donnerstag verantwortlich ist, das Problem nicht auf den Punkt bringen können.

Es geht bei den Protesten gegen Stuttgart 21 nicht um Bäume, nicht um Verkehr und auch nicht um die Folgen, die der Vier-Milliarden-Bau für Grundwasser und Innenstadt haben könnte. Was die Menschen auf die Straße treibt, ist eine Erfahrung der Ohnmacht: die Erkenntnis, dass sie trotz guter Argumente nicht angehört werden. Dieses Gefühl, von der Politik bis auf sporadische Belästigungen durch Wahlreden links liegen gelassen zu werden, ist nicht auf Stuttgart beschränkt, sondern hat die Masse erfasst. Wahlen werden als folgenloses Ritual, Wahlkämpfe als PR-Turniere wahrgenommen; Entscheidungen über Milliarden fallen hinter den Kulissen, ohne Einflussmöglichkeiten für den Einzelnen. Deshalb fiebert nun ganz Deutschland mit, wenn ein paar Zehntausend beschließen, sich die Packelei nicht mehr gefallen zu lassen. Und deshalb hat Kanzlerin Angela Merkel das Projekt zur Chefsache gemacht: Der Protest gegen einen Bahnhofsbau wurde zur Bewährungsprobe der repräsentativen Demokratie.

Stuttgart 21 ist demokratisch legitimiert. Es wurde von Parlamenten beschlossen und von Gerichten bestätigt. Die Politiker und Manager sprechen im Brustton der Überzeugung, wenn sie einen Volksentscheid deshalb als „nicht rechtens“ ablehnen (Ministerpräsident Stefan Mappus) und den Gegnern das Recht absprechen, dagegen zu demonstrieren (wie Bahnchef Grube). Doch sie wirken dabei trotzdem nicht wie Demokraten – sondern eher wie Ludwig XIV., Bauherr von Versailles: Statt eines Schlosses wird ein prestigereicher Verkehrs-Palast unter die Stadt geklotzt. Finanzierung und Auftragsvergabe sind ähnlich undurchsichtig wie in einer absolutistischen Monarchie. Statt „Der Staat bin ich“ heißt es „Die Demokratie sind wir“ – und die Politiker meinen dabei sich selbst, nicht die Wähler.

Nun stellt die Politik fassungslos fest, dass sie damit nicht mehr durchkommt. Die repräsentative Demokratie kommt aus dem 19. Jahrhundert: einer Zeit langer Wege und langsamer Informationen. Stuttgart 21 ist der Beweis, dass das Modell überholt ist. Jeder Gegner kann sein Alternativprojekt veröffentlichen, jeder Demonstrant seine Version der Ereignisse ins Internet stellen. Jede Sekunde des Polizeieinsatzes ist auf YouTube dokumentiert – und so kam die Polizei mit ihrer Version von linken Chaoten diesmal nicht durch, sondern musste zugeben, dass sie Steinwürfe und Pfeffersprayattacken schlicht erfunden hatte. Die (unfreiwillige) Transparenz ist so groß wie nie, und sie macht den Blick auf einen wahren Sumpf aus Politik, Behörden und beteiligten Unternehmen frei. In ganz Deutschland gehen nun erboste Menschen quer durch das politische Spektrum auf die Straße, und auch andere Proteste, etwa gegen Atomkraft, nehmen Fahrt auf. Die Deutschen haben genug davon, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird.

Die CDU ist fest entschlossen, das Projekt durchzuboxen. Sie spielt dabei mit der Glaubwürdigkeit der Demokratie: Denn die beruht darauf, dass der Bürger zumindest das Gefühl hat, mitreden zu können. Vielleicht kommt die CDU mit ihrer harten Linie durch. Doch sie wirkt dabei ähnlich realitätsfremd und autistisch wie Ludwig XVI., der als Letzter seiner Dynastie das Versailles genießen durfte, bevor er von der Französischen Revolution weggefegt wurde. Sinnvoller wäre, zu überlegen, wie man die Demokratie an die neuen Zeiten anpasst: mit gnadenloser Transparenz, Mitbestimmungsverfahren – und zunächst einem Baustopp bei Stuttgart 21.

Die Zeit des Wegsehens ist vorbei: Wien hat ein Integrationsproblem

Corinna Milborn meint, die SPÖ braucht eine starke Ansage zur Integrationspolitik. NEWS Nr. 41/10 vom 14.10.2010. Ressort: Meinung

Wer die Auftritte der Wiener Parteien beobachtet hat, ist vom Ergebnis der Wien-Wahl nicht überrascht. Es gab in diesem Wahlkampf nur einen Spitzenpolitiker, der, völlig eins mit sich und seiner angemaßten Rolle als Rächer der Unterdrückten, seine Botschaft mit voller Leidenschaft vertrat: Das war Heinz-Christian Strache. Und Strache war auch der Einzige, der die zwei Themen, die der ärmeren Hälfte der Stadtbevölkerung auf den Nägeln brennen, von Beginn an offensiv besetzt hat: Integration – bzw. der Mangel daran – und die Zukunftsängste der unteren Mittelschicht, die Strache platt, aber gekonnt ebenfalls mit dem Schlagwort „Ausländer“ verknüpfte. Die anderen Parteien hechelten hinterher und fanden sich so bei der Integrationspolitik entweder in der Defensive – oder versuchten (wie die ÖVP), sich unbeholfen rechts anzubiedern, was kläglich scheiterte.

Dabei war abzusehen, dass das Thema wahlkampfbestimmend wird: Denn Wien hat tatsächlich ein Integrationsproblem. Es hat wenig mit Neuzuwanderung zu tun, sondern mit einer Schicht von Migrantenkindern, die in Österreich aufgewachsen sind, aber – ständig als „Türken“ oder „Ausländer“ bezeichnet – nicht dazugehören. Die Gräben zwischen ihnen und der „alteingesessenen“ Bevölkerung werden täglich tiefer. In den Volks- und Hauptschulen, in denen die neue Generation heranwächst, ist die Spaltung schon fast gänzlich vollzogen.

Wien züchtet sich hier eine wachsende Gruppe perspektivenloser, stigmatisierter junger Menschen heran, die als Angriffsfläche für jene herhalten, die den Abstieg fürchten. Die Folgen sieht man in anderen Großstädten: Wut, ein Hang zu fundamentalistischen Gruppen, Ghettos. Die FPÖ spricht also die richtigen Fragen an, gibt aber eine fahrlässig gefährliche Antwort: Denn Strache setzt auf noch mehr Spaltung und heizt die Konflikte so an. Bei allen anderen Parteien fehlt die klare Ansage, wie diese Probleme in Angriff genommen werden sollen. Die SPÖ hat zwar einige Schritte für Integration gesetzt – doch nun geriet sie in die Defensive und setzte wieder auf einen Community-Wahlkampf ihrer konservativen Vorzeigemuslime, was alles andere als integrationsfördernd ist. Ebenso wie die Strategie, Probleme totzuschweigen, um der Rechten nicht in die Hände zu spielen – denn so überlässt man ihr das Feld.

Doch die Zeit des Wegsehens ist vorbei. Wien wird, wie alle Großstädte, wachsen. Die Verteilungsfrage wird brennender, und die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund wird selbst ohne Zuzug jährlich größer. Für das Zusammenleben in einer Weltstadt braucht es offensive Konzepte, die mit ebenso viel Leidenschaft vertreten werden, wie Strache das mit seiner Sündenbockpolitik tut. Es ist zu hoffen, dass der Erfolg der FPÖ ein Weckruf war: „Weiter wie bisher“ genügt nicht mehr.

Die neue Stadtregierung braucht einen Entwurf für eine gemischte Gesellschaft, der klar vermittelt: In dieser Stadt gelten die Regeln für alle, dafür haben alle die gleichen Chancen. Und sie muss sich ihre eigenen Zukunftsthemen zurückerobern: Denn Bildung, Arbeitsmarkt und selbst Wohnbau wurden in diesem Wahlkampf zu Chiffren für das Ausländerthema. Das haben sie nicht verdient.

Doch leider wird so ein Entwurf, der mit Leidenschaft vertreten wird, mit dem logischen Koalitionspartner nicht gelingen: Der rot-schwarze Stillstand auf Bundesebene war mit verantwortlich für die Wut auf „die da oben“ und damit für den Wahlerfolg der FPÖ. Warum eine Koalition ausgerechnet mit der Wiener ÖVP mehr Drive haben sollte, ist nicht einzusehen. Die Grünen leiden zwar manchmal noch an Multikulti-Illusionen, hätten aber mit Maria Vassilakou und Senol Akkilic zumindest zwei Politiker, die dem eine klare Linie entgegensetzen. Die stärkere Ansage für einen Wandel wäre Rot-Grün allemal. Und eine starke Ansage ist jetzt dringend notwendig.

Verraten, verkauft – und abgeschoben

Frauenhandel. Osas I. ist Opfer von Menschenhandel. Sie floh, zeigte die Täter an und brachte sich in Lebensgefahr – doch niemand ermittelt. Nun steht sie vor der Abschiebung. Von Corinna Milborn. NEWS Nr. 41/10 vom 14.10.2010

Osas ist 22. In ihrer Heimatstadt in Nigeria arbeitete sie als Krankenschwester. Auf den Fotos von damals sieht man eine junge Frau mit strahlenden Augen: Sie hatte große Pläne, wollte die Welt erkunden, in Europa arbeiten.

Jetzt sitzt sie uns abgemagert gegenüber, sie spricht ein gehetztes Englisch. Wenn man sie nach ihrer Zukunft oder ihrer Familie fragt, dreht sie den Kopf zur Seite und verstummt. Osas wurde Opfer von Menschenhandel, eines von 2,7 Millionen weltweit pro Jahr. Sie wurde im März 2008 unter falschen Versprechungen nach Österreich geschleppt und sollte 50.000 Euro an die Täter abzahlen – durch Arbeit in der Prostitution. Es ist das Schicksal von über 500.000 Frauen, die laut Amnesty International jährlich nach Westeuropa in die Prostitution verkauft werden. Kaum eine wagt es, zu fliehen oder sich gar an die Polizei zu wenden: Wer sich weigert, bringt sein Leben in Gefahr – und das seiner Familie.

Das ist auch, sagen Polizei und Justiz, das Hauptproblem bei der Bekämpfung von Menschenhandel. „Die Opfer haben zu große Angst, auszusagen. Deshalb kommen wir an die Täter schwer heran“, sagt Oberst Gerald Tatzgern, im Innenministerium für den Kampf gegen Menschenhandel zuständig. Doch Osas ist anders. Sie floh und zeigte die Täter bei der österreichischen Polizei an. Das war im September 2009.

Doch der mutige Schritt bleibt folgenlos. Niemand ermittelt. Kein österreichisches Gericht interessiert sich für die Namen der Täter. Osas hält nun ein Papier in der Hand: Darauf steht „Aufenthaltsverbot“. Das Opfer, das die Namen der Täter nennt und damit sich und seine Familie in Lebensgefahr brachte, steht vor der Abschiebung, während die Täter weiter ihrem Geschäft nachgehen. Was ist passiert?

Osas Geschichte beginnt in Benin City, einer großen Stadt im Süden Nigerias. Die Straßen bestehen hier aus rotem Staub, die Zukunftsaussichten für die Jugend sind miserabel. Osas verdient schlecht, will weg – eine Zukunft. Neben ihrem Job in einem Krankenhaus pflegt sie den kranken Nachbarn. Dessen Tochter lebt in Wien, und eines Tages sieht sie ein Foto der schlanken, strahlend schönen jungen Frau. „Komm nach Österreich, ich habe hier eine Computerschule, in der du arbeiten kannst“, schreibt diese ihr. „Ich organisiere alles.“

Mit falschen Papieren nach Wien. Osas zögerte. Benin City ist der Knotenpunkt des Menschenhandels aus Nigeria. Viele Zehntausend Mädchen wurden von hier aus nach Europa verschleppt. In den Schulen warnen Plakate davor, einen Job in Italien anzunehmen. „Es geht um Menschenhandel“, steht darauf. Doch von Österreich hatte Osas noch nie gehört. „Ich glaubte ihnen, es war schließlich die Tochter meines Nachbarn“, sagt sie.

Ein Nigerianer mit Wohnsitz in Wien besorgt Osas einen Pass. Darin ist ihr Foto, aber nicht ihr Name. „Seine königliche Hoheit“, wie der Schlepper voll Respekt genannt wird, hat die Beamten bestochen und den Namen seiner Ehefrau eintragen lassen.

Im März 2008 kommt Osas in Wien an. Die Tochter des Nachbarn holt sie ab und schickt sie mit einer abstrusen Geschichte zur Asylbehörde. Es ist ein typischer Schachzug der Täter: In Österreich dürfen Asylwerberinnen nicht arbeiten – aber sie dürfen legal auf den Strich gehen. Bis zur Abschiebung vergehen Jahre, in denen die Mädchen ihre „Schulden“ von bis zu 100.000 Euro abzahlen. In dieser Zeit sind sie versklavt. Dann entsorgt der österreichische Staat die ausgelaugte Ware, die Täter holen Nachschub.

Eingeschüchtert folgt Osas den Anweisungen. Doch in den nächsten Tagen merkt sie, dass sie in eine Falle getappt ist: Von einer Computerschule ist nicht mehr die Rede. Die angebliche Helferin stellt sich als „Madame“ – als Zuhälterin – heraus. Sie bringt sie in ihrer Wohnung unter und gibt ihr freizügige Kleidung. „Ich habe dich gekauft. Du schuldest mir 50.000 Euro, und du wirst sie auf dem Strich abarbeiten“, befiehlt sie. Doch Osas weigert sich – und flieht.

„Zurück nur als Leiche.“ „Ich wollte sofort wieder nach Nigeria zurück. Es war ja alles eine Lüge“, sagt Osas. Doch da bauen die Menschenhändler Druck auf. Osas kommt in einem Asylwerberheim in einer anderen Stadt unter. Die Täter machen sie ausfindig und beginnen, ihrer Familie zu drohen. Osas Bruder wird in ihrer Heimatstadt zusammengeschlagen und muss untertauchen. Ihr dreijähriger Neffe wird aus dem Kindergarten entführt und stundenlang festgehalten. „Sie wollten ihn erst herausgeben, wenn ich nachgebe“, sagt Osas. Und der Weg zurück nach Nigeria ist abgeschnitten. „Zurück kommst du nur als Leiche“, drohen die Täter.

Im September 2009 kommt es zum Showdown: Osas fährt zu einem Gottesdienst nach Wien und trifft auf „ihre“ Madame. Diese greift sie auf der Straße an, sprüht ihr Pfefferspray in die Augen und schreit, zurückgehalten von anderen Kirchenbesuchern: „Wenn du nicht arbeitest, lasse ich dich umbringen!“ Zu diesem Zeitpunkt weiß Osas, dass sie nichts mehr zu verlieren hat – und geht zur Polizei.

„Ich habe den Angriff angezeigt und die ganze Geschichte dazu erzählt“, sagt sie. Osas nennt die Namen der Täter, sie weiß auch von anderen Mädchen, die sie nach Europa gebracht haben. Sie ist eine Zeugin, wie sie sich die Polizei nur wünschen kann. Doch nach der Anzeige geschieht – nichts.

„Ich habe die Geschichte von Osas überprüft und glaube sie auf Punkt und Beistrich“, sagt Joana Reiterer, Gründerin der NGO Exit – eines Vereins, der sich auf die Betreuung von nigerianischen Opfern von Menschenhandel spezialisiert hat. Exit bringt die Anzeige erneut ein und beantragt Opferschutz – denn Osas hat mittlerweile ein Aufenthaltsverbot. Im April legt die Staatsanwaltschaft das Verfahren nieder, damit ist auch der Opferschutz hinfällig; die Vorwürfe seien nicht glaubwürdig. Einvernommen wurde Osas nicht.

„Wir können über laufende Verfahren keine Auskunft geben“, erklärt Michaela Schnell, Sprecherin der Staatsanwaltschaft – denn der Antrag auf Wiederaufnahme liegt seit Mai beim Landesgericht für Strafsachen. „Das wird entschieden, wenn es eben fertig ist“, sagt Richter Christian Gneist, Sprecher des Landesgerichtes. „Wenn die Dame in der Zwischenzeit abgeschoben wird, ist das leider nicht unsere Zuständigkeit.“

Entsetzen unter Experten. Unter jenen, die in Österreich gegen Menschenhandel kämpfen, löst der Fall Kopfschütteln und Entsetzen aus. Denn Österreich ist ein wichtiges Durchgangs- und Zielland für Menschenhandel – und hat keine gute Bilanz: Nur fünf Täter wurden 2009 wegen Menschenhandels verurteilt, dazu kommen 39 Verurteilungen wegen „grenzüberschreitenden Prostitutionshandels“. Im Menschenhandelsbericht des US State Department führt die US-Regierung eine Reihe an Kritikpunkten an Österreich auf: keine energische Strafverfolgung von Menschenhändlern, zu milde Strafen oder gar Freisprüche, mangelnde Kenntnisse von Staatsanwälten und Richtern, keine systematische Identifizierung von Opfern.

Auch im Fall von Osas liegt die Verantwortung wohl bei der Justiz. „Uns sind die Hände gebunden. Wir hätten hier Zugang zu den Namen von Tätern, dürfen aber nicht ermitteln, weil die Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt hat“, sagt ein Polizist. Evelyn Probst von der Organisation LEFÖ/IBF, die Opfer von Menschenhandel betreut, sagt: „Manchmal ist uns völlig unverständlich, warum die Justiz Verfahren einstellt.“ Auch die Leiterin der Taskforce gegen Menschenhandel, Botschafterin Elisabeth Tichy-Fisslberger vom Außenministerium, sieht Nachholbedarf: „Es wird in den Ermittlungen nicht immer alles versucht – das ist sicher unser wundester Punkt. Hätte die Justiz mehr gut ausgebildetes Personal, wäre das sicher besser.“ Die Bereitschaft, dazuzulernen, ist allerdings nicht ausgeprägt: Im November sollte ein Seminar für Richter und Staatsanwälte stattfinden – es wurde wegen Mangels an Interesse abgesagt.

Nun droht die Abschiebung. Osas, das Opfer, dem niemand zuhört, steht unterdessen vor der Abschiebung. In der Woche vor unserem Treffen war die Fremdenpolizei dreimal in ihrem Quartier, um sie zu holen. „Osas war nur deshalb nicht greifbar, weil sie wegen einer Krankheit woanders übernachtet hat“, sagt ein Betreuer. „Sonst wäre sie wohl schon in Nigeria.“ Exit hat nun beschlossen, einen neuen Asylantrag zu stellen. Wird er abgelehnt, dann wird Osas in ihre Heimat verfrachtet – dorthin, wo die Menschenhändler drohen, an ihr, die sie angezeigt hat, ein Exempel zu statuieren. Die Täter gehen unterdessen ihren Geschäften in Wien nach. Sie wurden nicht behelligt.

Wenn man Osas nach ihrer Zukunft fragt, bricht ihre Stimme. „Ich habe Angst“, sagt sie. Und: „Ich will aussagen. Bitte, hört mir zu.“