„Hört auf, uns zu retten!“

Report aus dem „Land der Tränen“: Wie die Bevölkerung durch das Sparpaket verarmt. Erschienen in NEWS 24.2.2012.

„Bitte hört auf, uns zu retten. Wir können nicht mehr!“ Evagelia Karageanalel, 65, steht auf dem Syntagma-Platz in Athen und bläst in ihre Trillerpfeife. Drinnen im Parlament wird das neueste Sparpaket in Gesetze gegossen – die Bedingung dafür, dass jene 130 Milliarden aus Europa fließen, die das Land vor dem Bankrott retten sollen. Draußen wogt eine Demonstration, zurückgehalten von einer Phalanx von Polizisten in Gasmasken und Helmen: Denn hier fühlt sich niemand gerettet. „Ich habe seit 1974 als Schneiderin gearbeitet und immer meine Steuern bezahlt. Jetzt wurde meine Pension von 700 auf 500 Euro gekürzt. Ich soll zahlen, damit diese Diebe da drinnen ihre korrupten Geschäfte vertuschen und die Banken bedienen“, sagt Evagelia. Die Pensionistin spricht aus, was die Mehrheit der Griechen denkt: Es reicht. „Ihr rettet uns zu Tode“, steht auf einem Plakat.

In die Rezession gerettet
Als Griechenland vor zwei Jahren mit über 100 Milliarden Euro vor dem Bankrott gerettet wurde, herrschte in Athen noch Erleichterung. Jetzt ist Depression eingezogen: Die vergangenen zwei Jahre haben das Land in eine Spirale aus Pleiten, Arbeitslosigkeit und Rezession gestürzt. Im März müssen wieder 14,5 Milliarden Euro an Anleger ausgezahlt werden – und das gelingt nur mit dem neuen Hilfspaket.

Doch die Privatisierungen stocken, die Strukturreformen schleppen sich, und an der Macht sind dieselben Parteien, die das Schlamassel angerichtet haben. Den Preis zahlt nun die Bevölkerung: Der Mindestlohn wurde um 22 Prozent auf 586 Euro brutto gekürzt (etwa 420 Euro netto). Im Privatsektor sollen die Löhne um 20 Prozent sinken, die Pensionen werden neuerlich beschnitten.

„Es wäre besser, wenn wir endlich bankrottgehen könnten. Denn dann könnten wir einen Schnitt machen und die Staatseinnahmen für Investitionen verwenden“, sagt Vasilis Threpsiadis. Er ist arbeitslos, wie jeder zweite unter 25. Die Baufirma seines Vaters ging im Sommer in Konkurs – einer von 60.000 Betrieben, die 2011 dichtgemacht haben. Heuer, meint der IWF, werden es doppelt so viele sein. Griechenland liegt am Boden, und zu spüren bekommt das nun die Mittelklasse.

15.000 „Neue Obdachlose“
So wie Giorgios Barkouris, 60. Er sitzt in Hof des Obdachlosenheims der Organisation Klimaka. Die dunkle Jacke ist schon leicht zerschlissen, die Wangen eingefallen. Barkouris war Computertechniker und IT-Manager, bis die Krise seinen Job hinwegfegte. Es dauerte nur ein paar Monate, bis die Ersparnisse aufgebraucht waren und er die Miete nicht mehr zahlen konnte.

„Es war ein Schock. Ich hatte einen guten Job, war anerkannt und stand kurz vor der Pensionierung. Und dann schläfst du plötzlich auf Parkbänken und stellst dich in Suppenküchen an. Die Scham hat mich in eine Depression gestürzt.“ Barkouris hat jetzt einen Schlafplatz im Obdachlosenhaus, er kümmert sich um das Einsammeln der Spenden.

„Er ist kein Einzelfall“, sagt die Leiterin Effie Stamatogiannopoulo: „Bis vor einem Jahr kümmerten wir uns ausschließlich um Drogenabhängige und psychisch Kranke. Dann waren da plötzlich Hunderte Menschen auf der Straße, die gesund waren und aussahen wie normale Angestellte.“ Jetzt kommen jeden Abend über 500 hierher, um zu essen und ihre Wäsche zu waschen. „Wir nennen sie die neuen Obdachlosen – es sind mittlerweile über 15.000 allein hier in Athen.“

Die Psychiaterin Eleni Bekiari, die mit 25 Freiwilligen bei Klimaka eine Selbstmord-Hotline betreibt, merkt die Krise am Telefon: „Die Anrufe bei unserer Hotline haben sich im letzten Jahr mehr als verdoppelt. Besonders gefährdet sind Frauen, die ihre Kinder nicht mehr ernähren können, und Männer, deren Unternehmen in Konkurs gegangen sind: Sie sehen keinen Ausweg mehr.“ Erst letzte Woche drohte eine verzweifelte Mutter, sich vom Balkon zu stürzen. Sie hatte ihren Job in einer Kinderbetreuungsstätte verloren – eine von 15.000 Staatsbediensteten, deren Stellen nun gestrichen werden.

Impfungen als Luxus
Besonders betroffen von den Sparmaßnahmen sind Pensionisten und Familien mit Kindern. Das Unterrichtsministerium startet nun ein Ernährungsprogramm für Schulkinder – denn seit einigen Monaten häufen sich Fälle von Kindern, die im Unterricht vor Hunger in Ohnmacht fallen. Und auch das Gesundheitssystem ist dabei, zusammenzubrechen. Wegen der Zahlungsrückstände des Staates weigern sich die Versicherungen, Medikamente zu bezahlen. Die Folge: Immer mehr Griechen wenden sich an Entwicklungshilfe-Organisationen – mitten in Europa.

„Wir betreiben hier eigentlich ein Flüchtlingsheim“, sagt Christina Samartsi von der französischen Hilfsorganisation Medecins du Monde. Sie sitzt im sechsten Stock eines Hauses im ärmlichen Stadtteil Omonia. An den Wänden hängen Fotos aus Afrika. Im Erdgeschoß gibt es eine Ambulanz. „Jeder fünfte Patient ist mittlerweile Grieche. Wir haben hier Leute, denen die Chemotherapie verweigert wird, oder Familien, die mit ihren Kindern kommen: Eine Impfung ist zu einem Luxus geworden.“

Seit Monaten ohne Gehalt
Eine Erfahrung, die auch Moisis Litsis machen muss. Seit 1997 ist er Finanzredakteur für die zweitgrößte Tageszeitung des Landes, „Eletherotypia“. Doch seit Dezember erscheint die Zeitung nicht mehr: Die Büros hinter der blauen Glasfassade sind leer, nur vereinzelt sieht man Journalisten an mitgebrachten Laptops. „Alle 800 Angestellten, darunter über 200 Journalisten, haben seit August kein Gehalt bekommen. Wegen der Krise wurde dem Verlag ein Kredit nicht ausbezahlt“, erklärt Litsis. Seine Kinder kann er nur mehr mithilfe von Verwandten versorgen. Im Versammlungsraum im obersten Stock des Redaktionsgebäudes werden für die Bedürftigsten nun Lebensmittelspenden gesammelt.

Doch die Belegschaft der „Eletherotypia“ ist auch ein Beispiel für die Griechen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen: die Suppenküchen gründen, in Gruppen aufs Land ziehen – oder selbst eine Zeitung drucken. Vergangenen Mittwoch brachten die unbezahlten Redakteure zum ersten Mal eine eigene Ausgabe heraus. Sie verkaufte mehr als das Doppelte der normalen Auflage. „Der Hunger nach unabhängigen Nachrichten ist riesig“, sagt Litsis. „Denn wir sind nicht unschuldig an der Situation Griechenlands: Es gibt eine enge Allianz zwischen den großen Unternehmen, der Politik und den Medien. Seit zwei Jahren heißt es, es gebe keine Alternative zu den Rettungs- und Sparpaketen. Wir haben abweichende Meinungen nie gedruckt. Nun bricht das Land zusammen, und es ist offensichtlich, dass dieser Weg falsch war.“

Bankrott der Demokratie
Eine Einsicht, der sich nun auch immer mehr Politiker stellen. Szenenwechsel auf einen Markt im ärmlichen Stadtteil Santa Barbara: Der Parlamentsabgeordnete Labros Michos spaziert die Stände entlang – und wird auf Schritt und Tritt umarmt. In einem Land, in dem sich die meisten Parlamentarier nicht mehr ohne Polizeischutz auf die Straße trauen, ist das ein außergewöhnliches Bild. Der Grund: Michos hat am vergangenen Sonntag gegen das Sparpaket gestimmt und wurde dafür aus der regierenden Partei Pasok ausgeschlossen. Nun ist er wilder Abgeordneter, einer von 42.

„Das Parlament winkt nur mehr durch, was Brüssel beschlossen hat. Der Premier wurde nicht gewählt, und Deutschlands Finanzminister will nicht nur, dass wir uns über die Wahlen hinaus zum Sparpaket bekennen – er will uns sogar eine große Koalition vorschreiben“, erklärt Michos. „Kein Euro, der jetzt kommt, wird im Land investiert. Sogar unsere Staatseinnahmen gehen auf ein Sperrkonto, um die Schulden zu bedienen. Das ist ein Kampf der Märkte gegen die Demokratie – und derzeit gewinnen die Märkte“.

Die Dissidenten mehrerer Parteien überlegen nun, bei den Wahlen im April mit einer eigenen Liste anzutreten. Das Potenzial ist groß: Die Großparteien erwartet eine historische Wahlniederlage.

Doch bis dahin wird die Sparpolitik durchgezogen. Zurück auf dem Syntagma-Platz: Wieder haben sich Tausende vor dem Parlament versammelt. „Wir vertrauen unseren Politikern nicht mehr, tut ihr es noch?“ steht auf einem Transparent. Die Polizei hat das Studentenviertel Exarchia abgeriegelt. Um die abgebrannten Gebäude, Mahnmale der letzten Aufstände, sind Mannschaftsbusse postiert.

„Sonst haben wir bald Krieg.“
Die Polizei wartet die Abendnachrichten ab, dann beginnt sie, den Platz zu räumen. Ohne Vorwarnung versinkt der Platz in einer Wolke Tränengas. Steine fliegen, Auslagen gehen zu Bruch, junge Anarchisten schlagen den Marmor von den Banken und Hotels und verwenden ihn als Wurfgeschosse. Vereinzelt fliegen Molotowcocktails. Binnen einer Stunde verwandelt sich das Zentrum in ein Schlachtfeld – wie fast jede Woche in Athen. „Es ist ein Wunder, dass noch niemand gestorben ist“, sagt Alexandros später. Der junge Filmemacher hat im Sommer die Bewegung der Empörten mitorganisiert. Nun sieht er sie in Flammen aufgehen. „Die Leute beginnen bereits, sich Waffen zu besorgen. Wenn Griechenland weiter auf diese Weise gerettet wird, haben wir bald Krieg.“