Stuttgart 21: Wenn Bürger sich die Entmündigung nicht gefallen lassen

Corinna Milborn über den neuen Widerstandswillen der Deutschen und seine Folgen. NEWS Nr. 40/10 vom 07.10.2010. Ressort: Meinung.

Bei Versailles hat auch keiner nach den Kosten gefragt.“ Dieser Satz entwischte dem CDU-Innenminister von Baden-Württemberg, Heribert Rech, bei einer Landtagsdebatte zum umkämpften Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“. Besser hätte jener Minister, der für den Polizeieinsatz am vergangenen Donnerstag verantwortlich ist, das Problem nicht auf den Punkt bringen können.

Es geht bei den Protesten gegen Stuttgart 21 nicht um Bäume, nicht um Verkehr und auch nicht um die Folgen, die der Vier-Milliarden-Bau für Grundwasser und Innenstadt haben könnte. Was die Menschen auf die Straße treibt, ist eine Erfahrung der Ohnmacht: die Erkenntnis, dass sie trotz guter Argumente nicht angehört werden. Dieses Gefühl, von der Politik bis auf sporadische Belästigungen durch Wahlreden links liegen gelassen zu werden, ist nicht auf Stuttgart beschränkt, sondern hat die Masse erfasst. Wahlen werden als folgenloses Ritual, Wahlkämpfe als PR-Turniere wahrgenommen; Entscheidungen über Milliarden fallen hinter den Kulissen, ohne Einflussmöglichkeiten für den Einzelnen. Deshalb fiebert nun ganz Deutschland mit, wenn ein paar Zehntausend beschließen, sich die Packelei nicht mehr gefallen zu lassen. Und deshalb hat Kanzlerin Angela Merkel das Projekt zur Chefsache gemacht: Der Protest gegen einen Bahnhofsbau wurde zur Bewährungsprobe der repräsentativen Demokratie.

Stuttgart 21 ist demokratisch legitimiert. Es wurde von Parlamenten beschlossen und von Gerichten bestätigt. Die Politiker und Manager sprechen im Brustton der Überzeugung, wenn sie einen Volksentscheid deshalb als „nicht rechtens“ ablehnen (Ministerpräsident Stefan Mappus) und den Gegnern das Recht absprechen, dagegen zu demonstrieren (wie Bahnchef Grube). Doch sie wirken dabei trotzdem nicht wie Demokraten – sondern eher wie Ludwig XIV., Bauherr von Versailles: Statt eines Schlosses wird ein prestigereicher Verkehrs-Palast unter die Stadt geklotzt. Finanzierung und Auftragsvergabe sind ähnlich undurchsichtig wie in einer absolutistischen Monarchie. Statt „Der Staat bin ich“ heißt es „Die Demokratie sind wir“ – und die Politiker meinen dabei sich selbst, nicht die Wähler.

Nun stellt die Politik fassungslos fest, dass sie damit nicht mehr durchkommt. Die repräsentative Demokratie kommt aus dem 19. Jahrhundert: einer Zeit langer Wege und langsamer Informationen. Stuttgart 21 ist der Beweis, dass das Modell überholt ist. Jeder Gegner kann sein Alternativprojekt veröffentlichen, jeder Demonstrant seine Version der Ereignisse ins Internet stellen. Jede Sekunde des Polizeieinsatzes ist auf YouTube dokumentiert – und so kam die Polizei mit ihrer Version von linken Chaoten diesmal nicht durch, sondern musste zugeben, dass sie Steinwürfe und Pfeffersprayattacken schlicht erfunden hatte. Die (unfreiwillige) Transparenz ist so groß wie nie, und sie macht den Blick auf einen wahren Sumpf aus Politik, Behörden und beteiligten Unternehmen frei. In ganz Deutschland gehen nun erboste Menschen quer durch das politische Spektrum auf die Straße, und auch andere Proteste, etwa gegen Atomkraft, nehmen Fahrt auf. Die Deutschen haben genug davon, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird.

Die CDU ist fest entschlossen, das Projekt durchzuboxen. Sie spielt dabei mit der Glaubwürdigkeit der Demokratie: Denn die beruht darauf, dass der Bürger zumindest das Gefühl hat, mitreden zu können. Vielleicht kommt die CDU mit ihrer harten Linie durch. Doch sie wirkt dabei ähnlich realitätsfremd und autistisch wie Ludwig XVI., der als Letzter seiner Dynastie das Versailles genießen durfte, bevor er von der Französischen Revolution weggefegt wurde. Sinnvoller wäre, zu überlegen, wie man die Demokratie an die neuen Zeiten anpasst: mit gnadenloser Transparenz, Mitbestimmungsverfahren – und zunächst einem Baustopp bei Stuttgart 21.