Angst vor der eigenen Steuer-Schneid

Corinna Milborn findet den Ärger über die ungarische Bankensteuer entlarvend. NEWS Nr. 29/10 vom 22.07.2010. Ressort: Meinung.

Es ist gerade einmal einen Monat her, dass sich Bundeskanzler Werner Faymann als europäischer Held der Bankenabgabe feiern ließ. Über Wochen beklagte der Bundeskanzler den Druck einer Armee von 1.500 Bankenlobbyisten gegen seine Gerechtigkeitspläne, um dann zu jubeln, als der EU-Gipfel die Bankenabgabe beschloss: Der Finanzsektor, der die Krise heraufbeschworen hätte, müsse nun seinen Beitrag zu ihrer Bewältigung leisten.

Eingeknickte Heldenpose. Nun führt die (konservative!) Regierung Ungarns tatsächlich eine Bankenabgabe ein – und von der klassenkämpferischen Heldenpose der österreichischen Bundesregierung ist plötzlich nichts mehr übrig. Denn, oh Graus, die Abgabe trifft Banken – und zwar in hohem Maße österreichische. Nun wollen EU und Internationaler Währungsfonds die Ungarn vereint dazu zwingen, die neue Steuer zurückzunehmen und das Budget auf anderem Wege zu sanieren: mit Kürzungen bei öffentlichen Ausgaben und – mit höheren Steuern. Allerdings für Arbeitnehmer. Und Österreichs Vertreter in IWF und EU machen beim Druck auf Ungarn fleißig mit.

Die Kehrtwende ist bezeichnend: Banken sollen offenbar nur rhetorisch zur Kasse gebeten werden, und nur, wenn es andere trifft – aber nicht, wenn die Steuern in Österreich Auswirkungen haben. Tatsächlich haben es sich die Banken hierzulande schon bisher gut richten können: Sie zahlten in den Krisenjahren kaum Körperschaftssteuer oder bilanzierten sogar, der Gruppenbesteuerung sei Dank, erstaunliche Steuergutschriften.

Es scheint, dass Finanzlobbys nur dann „die Bösen“ sind, wenn sie sich im fernen Brüssel oder an der Wall Street befinden. Wenn es jedoch die eigenen Großbanken trifft, rastet der eingelernte Schulterschluss-Mechanismus ein – und die Regierung bekommt Angst vor der eigenen Steuer-Schneid.

Austro-Muslime: Erst Moschee ?? und? dann? Tanztempel

Das Islam-Dossier. Deutschland in Terror-Angst – undÖsterreich? Auf den Spuren einer Glaubensgruppe zwischen Radikalität &Moderne. Von Bastian Kellhofer, Hanna Simons, Corinna Milborn. NEWS Nr. 47/10 vom 25.11.2010.

Wien-Favoriten. Eine Disco am Rande der Stadt. Über tausend Jugendliche drängen sich vor der Bühne. Die Haare glänzen voll Gel, die Hemdensind eng, die Röcke der meisten Mädchen kürzer als kurz. Doch dazwischen sieht man immer wieder ein Kopftuch: Wir befinden uns im Club 34 – einem Treffpunkt der muslimischen, türkischen Jugend der Stadt. Und nicht alle sind davon begeistert, dass der Islam heute Einfluss auf das Nachtleben nimmt. „Heute gibt’s keinen Alkohol vor 1 Uhr“, motzen Ufuk, 19, und Nihat, 21, frustriert. Denn der Star des heutigen Abends, ein türkischer Rapper, will das nicht. „Das ist normal bei seinen Konzerten in der Türkei, aber wir dachten nicht, dass es hier in Wien auch so ist.“

Ortswechsel: Auch in der Moschee in der Pelzgasse nahe desWestbahnhofs dreht sich heute alles um die Hingabe. Von außen ist das Haus ein unscheinbarer Gründerzeitbau. Doch der helle Innenhof ist prunkvoll renoviert. Mosaikvertäfelungen und Teppichböden machen aus dem Raum einen Ort der Ruhe und des Innehaltens. 400 Muslime kommen hier jeden Freitag zum Mittagsgebet zusammen und richten ihre Körper gen Mekka zum Beten aus. Männer in Anzügenreden heiter mit Jugendlichen, kleine Buben versuchen, der Predigt zu folgen,und spielen dann doch lieber weiter.

Feindbild Islam. Die Disco und die Moschee – zwei Orte muslimischen Lebens in Österreich, die von innen banale Normalität ausstrahlen. Für viele Österreicher sind sie dennoch Orte der Angst: Im Zuge von Terrorwarnungen, Integrationsdebatten und Kopftuchstreits wurde der Islam zur Gefahr Nummer eins für Europa hochstilisiert. Und die Angst bekommt ständig neues Futter: Am Mittwoch wurden in Deutschland, Belgien und den Niederlanden zehn islamistische Terrorverdächtige festgenommen. In Deutschland wollen Innenminister mehr Polizei in „islamische Viertel“ schicken und stellen Muslime so unter Generalverdacht. In Österreich gibt es zwar keine Terrorwarnungen- doch das Unbehagen steigt.

Doch wie gläubig sind Österreichs Muslime überhaupt? Wie sehr hängen sie dem konservativen Bild des Islam an? Und sind sie gar wirklich gefährlich – oder ein ganz normaler Teil der österreichischen Realität?

So gläubig sind Muslime. Rund 500.000 Muslime leben in Österreich. Wie viele davon ihren Glauben überhaupt praktizieren, ist laut dem österreichischen Islam-Experten Thomas Schmidinger nicht erforscht. Innerhalb der Muslime reiche die Bandbreite von „Leuten, die sich als Atheisten betrachten, über solche, die kulturreligiös sind, bis hin zu jenen, die aus der Religion politisches Handeln ableiten“. Nur rund 15 Prozent stehen einer muslimischen Organisation nahe: „Nur eine Minderheit praktiziert den Islam so, dass alle Regeln eingehalten werden.“ Allerdings seien praktizierende Muslime im Alltag sichtbarer und würden daher als unverhältnismäßig große Gruppe wahrgenommen.

Der überwiegende Teil der Muslime in Österreich, sind sich Experten einig, hat mit Religion also nicht mehr am Hut als der durchschnittliche Taufscheinkatholik – und sie sind untereinander so verschieden wie der Rest der Österreicher. Doch diese wenig religiösen Muslime, die kein Kopftuch tragen, gern mal Alkohol trinken und nur zu Festtagen in die Moschee gehen, kommen in der öffentlichen Diskussion nicht vor. Das wurmt jene, die damit leben müssen, dass ihre Religion entweder mit Terror verbunden wird oder mit konservativen Auslegungen des Islam.

Kritik an Vertretung. Im Zentrum der Kritik steht die offizielle Vertretung der Muslime in Österreich: die Islamische Glaubensgemeinschaft Österreichs, in der derzeit – bis Juni – die Wahlen zueinem neuen Präsidium stattfinden. Muslime wie der grüne Bundesrat Efgani Dönmez fühlen sich von ihr nicht vertreten – und der Ärger steigt: „Die IGGiÖ vertritt eine eher fanatische Glaubensrichtung. Muslime, die daskritisieren, werden denunziert, verleugnet oder ausgeschlossen. Es bleibt nurmehr die konservative Schiene übrig. “ Tatsächlich ist der scheidende Präsident Anas Schakfeh, der die Glaubensgemeinschaft seit 1998 führt, im Brotberuf Konsulent des saudischen Kulturinstituts. In Saudi-Arabien herrscht eine extremkonservative Auslegung des Islam vor. Schakfeh selbst meint allerdings: „Mit der Auslegung des Islam in Saudi-Arabien beschäftige ich mich nicht.“

Zweiter Kritikpunkt: Die Glaubensgemeinschaft gebe zwar vor, für alle Muslime zu sprechen, vertrete jedoch nur eine konservative Minderheit, protestieren etwa die „Initiative Liberaler Muslime“, die nun eine eigene Vertretung gründen will, und zahlreiche Vertreter der liberalen Aleviten, die etwa ein Fünftel der österreichischen Muslime ausmachen. Für sie hat Schakfeh eine klare Antwort: „Aleviten sind keine Muslime, ich unterstütze, dass sie eine eigene Glaubensgemeinschaft gründen.“

Derzeit arbeitet die IGGiÖ daran, die Mitgliederzahlen zu steigern: 16.000 sind bereits als Wahlberechtigte eingetragen, nach dem Abschluss der Registrierung in Wien und der Steiermark werden sich die Zahlen,schätzt Schakfeh, verdoppeln. Das ist allerdings immer noch weniger als ein Zehntel der Muslime in Österreich. „Die Mehrheit fühlt sich hier nicht vertreten“, meint Islam-Experte Schmidinger.

Suche nach Identität. Unbestritten ist aber: Unter muslimischen Jugendlichen ist es „in“, sich dem Islam zuzuwenden. Wer in Österreich geboren ist und trotzdem immer nur als Ausländer gesehen wird, sucht eine neue Identität – und findet die oft im Islam. „Wir haben hier 60 bis 70 Prozent junge Leute. Die Rückkehr zu religiösen Werten ist spürbar. Die jungen Männer suchen wieder vermehrt Halt bei Allah“, so Numan Genc, der Generalsekretär der Union islamischer Kulturzentren in Österreich, die die Moschee in der Pelzgasse betreibt. Selbst in der Disco Club 34, in der es heute keinen Alkohol gibt, ist das spürbar. Als Sagopan, ein Rapper aus dem türkischen Samsun, nach Mitternacht die Bühne betritt, kocht der Club fast über. „Sagopan ist nicht wie die anderen Hip-Hopper“, erzählt die knapp bekleidete Bar-Frau in breitem Wienerisch, „er benutzt keine Schimpfwörter, sondern singt über Politik, Philosophie und seine Weltanschauung.“ Sagopan ist streng gläubig. Seine Message kommt in Favoriten gut an. Gefährlich ist sie nicht.

„Gefahr nicht unterschätzen“. Bedenklicher ist da schon der Zulauf zu den nationalistischen Vereinen, die etwa aus der Türkei nach Österreich kommen (s. Kasten Seite 48), und zu den kleinen, radikaleren Gruppen. Eine dieser Splittergruppen ist Hizb-ut-Tahrir – eine radikal-islamistische Partei, die in der islamischen Welt ein Kalifat errichten und die Scharia einführen will. In Deutschland ist die Partei verboten, in Österreich kann sie frei arbeiten. Shaker Assem, der Sprecher für den deutschsprachigen Raum: „Wir haben vor allem unter Jugendlichen derzweiten Generation Zulauf, die nach einer Identität suchen, weil sie hier nicht willkommen sind“ (s. Interview Seite 47).

Die 27-jährige gebürtige Bosnierin Amra (Name geändert) beobachtet in ihrem Umfeld ebenfalls ein verstärktes Interesse für die Religion. „Durch die Islam-Debatte fühlen sich auch junge, moderne Muslimeangegriffen, aber wissen nicht, wofür.“ Vielleicht mit ein Grund, warum ihr Exmann Zuflucht in einer berüchtigten Wiener Moschee suchte (siehe Kasten Seite 45). Dort habe sich der zwischen seiner bosnischen und österreichischen Heimat Hin und hergerissene akzeptiert und aufgehoben gefühlt.

Doch auch wenn die radikalen Gruppen intensiv werben: Noch hält sich der Zulauf in Grenzen. Das könnte sich ändern, wenn die Integrationspolitik weiter versagt – und eine neue Generation zwischen den Stühlen aufwächst.

Dennoch: Die Frage, ob Muslime eine Gefahr für die österreichische Gesellschaft darstellen, hält Schmidinger, Forscher an derUniversität von Minnesota, für falsch, „weil es, die Muslime nicht gibt“. Eine Gefahr gehe nur dann von einer Religion aus, wenn diese versuche, das Leben der Menschen und die Politik totalitär zu bestimmen: „Es gibt innerhalb der Muslime Gruppen, die das wollen, und solche, die das strikt ablehnen.“ Efgani Dönmez, „Muslim mit alevitischen Wurzeln“, sieht das ähnlich. „Vor dem Islam als Religion braucht sich niemand zu fürchten. Aber sehr wohl vor der politischen Instrumentalisierung durch Gruppen, die mit dem Ziel der schleichenden Islamisierung in Europa gezielt die Strukturen unterwandern. Diese Furcht ist berechtigt und real“, warnt der gebürtige Türke.

Generation zwischen den Stühlen. Im Grunde handelt es sich allerdings weniger um ein Problem der Religion als um ein Integrationsproblem. Auch der Ägypter Ramses, Schauspieler im aktuellen Milieu-Kurzfilm“Groll“, kennt die Identitätssuche unter Migranten der zweiten und dritten Generation. „Von uns wird immer verlangt, dass wir uns integrieren. Aber wie sieht diese Integration aus? Meine Freunde und ich sprechen fließend Deutsch, wir haben alle einen Job. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich erst ein akzeptierter Teil der Gesellschaft bin, wenn ich mein Kind Paul nenne oder plötzlich weiß im Gesicht werde.“

„Die zweite Generation ist die Übergangsgeneration“, glaubt die grüne Nationalratsabgeordnete Alev Korun. Die erste Generation der muslimischen Zuwanderer habe größtenteils nicht damit gerechnet, überhaupt in Österreich zu bleiben. Die dritte Generation beginne, Ansprüche zu stellen, weil Österreich für die selbstverständlich die Heimat sei.

Normale Österreicher. Die meisten in Österreich lebenden Muslime dürfte diese Debatte allerdings überhaupt nicht betreffen. Sie leben hier wie alle anderen auch, gehen zur Schule oder auf die Universität, haben anständig bezahlte Jobs oder ihre eigene Firma. Davon, jeden Tag zu beten, Kopftuch zu tragen oder ihre Töchter in die Zwangsehe zu schicken, sind sie weit entfernt. Sie begehen islamische Festtage so wie Christen Weihnachten oder Ostern – hauptsächlich als Familienfest. So wie Mahmut Orucoglu, ein Wiener Unternehmer: „Ich bin natürlich Muslim, ich bin auch so erzogen worden. Das heißt nicht, dass ich fünfmal am Tag bete. Es geht ja auch nicht jeder Christ jeden Sonntag in die Kirche.“ Von ihren Brüdern und Schwestern im Glauben fordern die modernen Muslime sehr wohl ein, sich zu integrieren. „Natürlich müssen sich Muslime anpassen, wenn sie hier leben“, meint Yasemin Sencalis, Sportmanagerin beim Wiener ASKÖ. „Die Österreicher müssen sich nicht anpassen, sondern einfach zuhören.“ Orucoglu sieht die“Chance, dass sich durch die Ausbildung der Imame und Lehrer in Europaeine Art europäischer Islam entwickelt und entfaltet“. Diesen Montag findet an der Universität Wien die Abschlussfeier für die ersten Absolventen des Lehrganges „Muslime in Europa“ statt. Die Ausbildung wird für österreichische Imame angeboten, das Interesse ist laut Uni Wien groß.

Die Lösung: Unterstützung für Fortschrittliche. Die Politikerin Alev Korun glaubt, dass sich das Problem im Lauf der Generationen entschärft: „Es wird eine Anpassung der Lebensgewohnheiten stattfinden.“ Die Politik müsse das in jedem Fall besser unterstützen -und zum Beispiel mehr mit fortschrittlichen Vereinen zusammenarbeiten oder dafür sorgen, dass muslimische Kinder die gleichen Chancen bekommen.

Jugendvertreterin Rodaina El Batnigi fordert flächendeckende Gesamt- und Ganztagsschulen ebenso wie ein eigenes Ressort für Integration: „Die Integrationsdebatte wird ja in Österreich teilweise falsch und unzureichend geführt.“

Efgani Dönmez fordert von seinen Politikerkollegenein radikales Umdenken: „Die Politik ist zu feige, um grundlegende strukturelle Änderungen durchzuführen.“ „Zuckerbrot und Peitsche“, also klare Gesetze, aber auch mehr Beratung, bessere Schulbildung, mehr Aufklärung – das ist das Rezept von Islam-Experte Schmidinger für ein besseres Zusammenleben. Er warnt vor einem wechselseitigen Hineinsteigern in Extremismen, ausgelöst durch die zugespitzte Islam-Debatte: „Ein gegenseitiges Aufschaukeln ist ein Weg in den Bürgerkrieg. Entweder wir schaffen es, ein friedliches Zusammenleben zu organisieren, oder die Lage wird eskalieren.“

Sommergespräche 2010: ‚Wir müssen Österreich sanieren‘

Josef Pröll, Finanzminister, Vizekanzler und ÖVP-Chef, über die Reparatur der Staatsfinanzen. Plus: ‚Reiner Tisch‘ nach dem Skandalsommer. NEWS Nr. 34/10 vom 26.08.2010

Dass Österreichs Bürger noch immer rätseln müssen, was an Belastungen zur Sanierung der Republik im Dezember auf sie zukommt, passiere nicht aus Jux und Tollerei. Sondern deswegen, weil dies „ein Megaprojekt“ sei, wie es das Land seit 1945 nicht gesehen habe. „Qualität vor Tempo“ sei seine Devise, sagt Finanzminister Josef Pröll im Gespräch mit NEWS:

News: Nach dem Sommer der Affären – mit welchem Gefühl starten Sie in den Herbst?

Pröll: Klar ist, dass diese Themen für die politische Landschaft, was den Korruptionsverdacht betrifft, keine erfreulichen sind. Ich komme entspannt, aber mit einer klaren Zielsetzung aus dem Urlaub zurück: aufzuräumen mit den Missständen, die da sind.

News: Grünen-Chefin Eva Glawischnig meint, Österreich habe ein schmutziges Jahrzehnt hinter sich. Gemeint ist angesichts der Fälle Haider & Grasser die schwarz-blaue Ära.

Pröll: Klar ist: Wenn es wo Missstände gab, ist unabhängig von Person oder Partei oder Regierungskonstellationen aufzuräumen! Das ist zunächst juristisch und dann allenfalls politisch zu klären. Ich bin froh, dass die Justiz ermittelt. Volles Tempo! Es gilt, reinen Tisch zu machen! Das gilt für die Hypo Kärnten, ebenso für die Kommunalkredit, für alles …

News: Wie sehr, meinen Sie, hat die Politik generell durch diese Vorfälle gelitten?

Pröll: Es gibt ein Minus vor der Politik, das eingebucht ist. Ich verstehe den Unmut in der Bevölkerung und teile ihn durchaus. Gerade aus diesen Gründen, um aus dem Minus wieder ein Plus vor der Politik zu machen, ist reiner Tisch zu machen.

News: Die Stimmung aber macht es doch sehr viel schwieriger, dem Volk eine Budgetsanierung zu erklären, bei diesem Selbstbedienungsladen, wo sich manche ihre Taschen vollgestopft haben …

Pröll: Man hört viel, es wird viel geredet. Ich warte auf die Beweise. Ja, es gibt ein Minus bei der Politik aufgrund der schwerwiegenden Vorwürfe. Sachlich stelle ich dem das qualitätsvolle Megaprojekt der Republik-Sanierung und des Staatshaushaltes entgegen. Ich will das für Österreich lösen. Dabei: Man soll die Stimmung nicht schlechterreden, als sie ist! Wir sind besser als andere durch die Krise gekommen, wir haben eine Kaufkraft und einen privaten Konsum, der sich sehen lassen kann. Wir sind on top in Europa, was Exportzuwächse betrifft.

News: So wollen Sie im Dezember der Bevölkerung ein milliardenschweres Belastungspaket „verkaufen?“

Pröll: Die Leute spüren ganz genau, was angerichtet wurde beim Image, aber auch, was wirtschaftlich notwendig ist. Es geht um die Sanierung, um die Reparatur der Republik. Wir müssen Defizite und Schulden abbauen. Griechenland ist ein mahnendes Beispiel! Die Bürger haben dafür ein genaues Sensorium. Deswegen bin ich total optimistisch. Aber notwendig ist es natürlich, die Dinge zu erklären. Dass das Sanierungspaket ausgewogen ist. Alle werden es zu tragen haben, dafür wird Verständnis da sein.

News: Dabei gehen Sie sogar das Risiko ein, die Verfassung zu strapazieren, sprich: zu späte Budgetrede?

Pröll: Selbst Bundespräsident Heinz Fischer sagt, dass es sich da um keinen Verfassungsbruch handelt. Zweitens: Ich habe das Parlament vor dem Sommer informiert, dass wir das Mega-Dreieck „Budget 2011“, „Bundesfinanzrahmen 2014 inklusive des größten spar- und einnahmenseitigen Pakets, das die Republik je gesehen hat“ sowie „Verwaltungsreform plus neues Länder-Stabilitätsprogramm“, dass wir dieses Megaprojekt innerhalb der Frist nicht schaffen können. Ich habe nicht bis nach den Wahlen gewartet, um zu sagen, ich kann’s net, sondern ich habe es frühzeitig gemeinsam mit dem Kanzler mitgeteilt. Wissend, dass dies schwierige Debatten bringt. Für mich geht Qualität vor Tempo! Natürlich nimmt die Opposition das zum Anlass für eine Sondersitzung, auch im Zeichen der bevorstehenden Landtagswahlen. Ich verstehe das. Nur: Ich will nicht hudeln, dieses komplexe Megaprojekt ist nicht besser auflösbar. So ehrlich bin ich, ja, da gehört Mut dazu. Denn wir stehen in der schwierigsten Situation seit 1945, kein Pappenstiel, wir reden von einer Krise in einer Dimension wie seit 1930 nicht.

News: Die Budgetsanierung wird bis 2013 rund sieben bis elf Milliarden Euro an Einsparungen abverlangen. Wie soll das funktionieren?

Pröll: Um die Gemüter zu beruhigen: Wir liegen derzeit bei 4,7 Prozent Defizit, das ist positive Spitze in der EU, andere haben neun, zwölf und mehr Prozent. Wir werden es schaffen, bis 2013 auf unter drei Prozent zu kommen. Pro Jahr eine Reduktion von 0,75 bis ein Prozent. Das ist möglich! Es werden etwa sieben Milliarden Euro zu realisieren sein.

News: Die SPÖ suggeriert: „Eat the rich!“ Sie sagen, eine Reichensteuer brächte nichts …

Pröll: „Nichts“ habe ich nicht gesagt. Aber es glaubt ja keiner, dass man mit so einer Botschaft allein den Staatshaushalt sanieren könnte. Meine Botschaft ist: Runter vom durchaus attraktiven Populismus-Pferd, zurück zur Ehrlichkeit! Ich will einmal das Sparpaket der einzelnen Ministerien im Detail sehen, dann werden wir die anderen Dinge prüfen. Wer nur die Steuern erhöht, kommt trotzdem nicht daran vorbei, dass uns die Kosten aus dem Ruder laufen. Wenn wir sie nicht deckeln, werden wir jedes zweite Jahr neue Steuern erfinden müssen. Aber sicher darf bei der Staatssanierung niemand ausgenommen werden, denn am Schluss muss dabei der Konsens für Österreich stehen!

News: Haben Sie 100-prozentiges Vertrauen in Kanzler Werner Faymann, dass Ihr Vorhaben von der SPÖ nach all den klassenkämpferischen Tönen zuletzt mitgetragen wird?

Pröll: Ich habe Vertrauen, dass wir das, was wir uns in die Hand versprochen haben, nämlich gemeinsam zu arbeiten, fünf Jahre hält. Dieses Herzstück steht vor uns. Ich will, dass das Herz Österreichs und das der Koalition nach diesem Megaprojekt kräftig schlägt.

News: Es wird keinen Bypass brauchen?

Pröll: Das wäre ewig schade, Derartiges würde das gemeinsame Projekt gefährden.

Sarrazin schafft Deutschland ab – und trotzdem fehlt die Debatte‘

Corinna Milborn zum Streit um Thilo Sarrazins Buch ‚Deutschland schafft sich ab‘. NEWS Nr. 35/10 vom 02.09.2010, Ressort: Meinung.

Thilo Sarrazin, deutscher Bundesbanker und SPD-Politiker, hat ein Buch geschrieben, das für sich genommen keiner Diskussion würdig wäre. Die Hauptthesen in „Deutschland schafft sich ab“ lauten zusammengefasst: 1. Muslime seien dümmer – genetisch oder kulturell bedingt, was für Sarrazin dasselbe zu sein scheint; 2. Muslime vermehrten sich stärker und vererbten dabei ihre Dummheit; und damit schaffe sich 3. das „deutsche Volk“ ab. Sarrazin garniert dies mit einem so haarsträubenden Gemisch aus halbzitierten Statistiken und rassistischen Ausfällen, dass er damit seine These der naturgegeben klugen Deutschen am eigenen Beispiel glatt widerlegt.

Doch das Buch sticht in ein Wespennest – und darum muss es diskutiert werden. Zuwanderer und ihre Nachkommen werden, besonders wenn sie an Religion oder Hautfarbe erkennbar sind, auch nach 50 Jahren noch als einheitlicher Block von „Fremden“ gesehen, die tagtäglich diskriminiert werden, um deren Probleme sich die Politik jedoch nicht weiter kümmert. Das hat zu einer tiefen Spaltung geführt. Die Situation ist tatsächlich explosiv – und niemand außer den Sarrazins kümmert sich darum.

Sarrazin macht sich also im Vakuum breit, das jener untätige politische Mainstream geschaffen hat, der sich nun über seinen Rassismus echauffiert. Es ist dasselbe Vakuum, das Debatten über türkische Aufschriften auf Milchpackerln und Plakate zur Verteidigung des „Wiener Bluts“ ermöglicht. Denn die Politik hat simple Fakten über Jahrzehnte ignoriert:

1. Deutschland und Österreich sind Zuwanderungsländer – und das nicht erst seit gestern.

2. Die Zuwanderung wird steigen müssen, sonst brechen die Sozialsysteme zusammen. Die Statistik Austria etwa rechnet sich das Pensionssystem schön, indem sie auf 37.000 Zuwanderer netto pro Jahr zählt – bis zum Jahr 2050.

3. Selbst wenn man sie aufhalten will: Zuwanderung findet statt – wenn nicht legal, dann illegal.

4. Deutschland und Österreich sind längst nicht mehr jenes homogen weiße, christliche Gebilde, das Sarrazin als „Volk“ sieht – sondern gemischte Gesellschaften, deren Kultur sich fließend ändert.

5. Europäische Werte sind weder genetisch bedingt noch an Religionen festzumachen – sondern heißen „Freiheit, Gleichheit, Solidarität“ und finden in den Menschenrechten Ausdruck. Und diese unterscheiden nicht nach Herkunft.

Wer von Zuwanderern Anpassung an europäische Werte will, der muss sie ernst nehmen und sie ihnen zuerst zugestehen. Eine Zuwanderungsgesellschaft braucht klare Regeln für alle, Chancengleichheit, geordnete Einwanderung. Das alles fehlt. Genau deshalb driften Muslime dritter Generation, die immer noch als „Ausländer“ gesehen werden, in radikale Moscheen ab. Genau deshalb haben türkischstämmige Kinder schlechtere Schulnoten. Und deshalb läuft Zuwanderung teilweise über illegale Umwege ab – und wird bald schmerzlich fehlen.

Leider ruft Sarrazins Buch die üblichen Reflexe hervor: Die einen nehmen es zum Anlass, jede Kritik an der Einwanderungspolitik auf Rassismus zu reduzieren. Die anderen fühlen sich in ihrem Unbehagen bestätigt und sind mangels vernünftiger Vorschläge geneigt, Sarrazins Thesen zu folgen. Und jenen Fundamentalisten, die Sarrazin vorgeblich kritisiert, verschafft er einen Schwung neuer, frustrierter Mitglieder.

Was schon wieder fehlt, ist eine vorurteilsfreie Debatte darüber, wie man – auf dem Boden europäischer Werte – eine Zuwanderungsgesellschaft organisiert. Sie muss stattfinden, sonst gibt es bald viele Sarrazins. Und wer dessen Thesen folgt, schafft Deutschland (und Österreich) wirklich ab: Eine Politik der geschlossenen Grenzen ließe die Sozialsysteme zusammenbrechen und wäre nur durchsetzbar, wenn man die europäischen Werte aufgibt.

Was bliebe dann noch übrig? Ein weißes Greisenvolk hinter Stacheldraht, ausgewählt nach Stammbaum und Religion. Und das will wohl niemand.

,3096 Tage‘ – das Buch: Die Geschichte einer Selbstbehauptung

Kampusch, Autorin: Wie das Protokoll einer Gefangenschaft entstand. Von Corinna Milborn. NEWS Nr. 37/10 vom 16.09.2010.

Ein Entschluss. Beim ersten Treffen ist Natascha Kampusch angespannt. Sie streckt den Arm weit von sich, als sie mir die Hand gibt, und spricht leise. Sie hat sich entschlossen, ihre Geschichte aufzuschreiben – doch sie fühlt sich nicht stark genug, es alleine zu tun. Der Verlag hat mich als Ghostwriterin vorgeschlagen, ich habe Bücher von mir mitgebracht. Beim nächsten Mal hat sie die relevanten Passagen gelesen und sagt zu. Wir beginnen. Es ist eine Reise ins Innere einer Gefangenschaft, die oft an die Grenzen des Erträglichen führt.

Natascha Kampusch will das Unfassbare in Worte gießen und es damit begreifbar machen – auch für sich selbst. Aber sie sieht das Buch auch als Aufgabe: Denn ihre Geschichte zeigt, dass man in ausweglosen Situationen überleben und sich daraus selbst befreien kann. Das mitzuteilen, Mut zu machen – das gibt ihr die Kraft, die traumatischen Erlebnisse noch einmal aufleben zu lassen.

Diszipliniert bis an die Grenze. Über mehrere Monate treffen wir uns, manchmal für ein paar Stunden, oft für ganze Tage. Anfangs fließt die Erinnerung chronologisch. Natascha Kampusch fasst ihre Gedanken in klare Sätze, so prägnant formuliert, dass man sie wortwörtlich aufschreiben kann. Doch als es um die Zeit der Gefangenschaft geht, verstummt sie immer öfter. Die Grausamkeit lässt den Atem stocken. Manchmal quält sich die Geschichte heraus, manchmal verstummt die junge Frau und steht selbst fassungslos vor den Angriffen, denen sie ausgesetzt war, als würde sie sie zum ersten Mal von außen sehen: die Schläge, die Dunkelhaft, der Psychoterror. Die Monate nahe am Hungertod – und die Launen eines Täters, der ihre einzige Bezugsperson war und die Welt draußen zur schemenhaften, verbotenen Erinnerung verblassen ließ.

Doch sie bricht nie ab: Sie trinkt ein Glas Wasser, schnappt kurz Luft und geht ein paar Schritte. Dann setzt sie sich und spricht weiter. Es entsteht ein einzigartiger Einblick in die Beziehung zwischen einem psychopathischen Täter und einem Opfer, in dem die Angst und die Gefangenschaft so tief steckten, dass sie bei den Ausflügen im letzten Jahr nicht mehr um Hilfe bitten konnte – und das sich schließlich doch befreite.

Draußen tobt derweil ein Deutungskampf um ihren Fall: Die Sonderkommission ermittelt, Ludwig Adamovich spinnt krause Theorien, Kampusch steht fast täglich in der Zeitung. Sie kann nicht mehr ins Café oder mit der U-Bahn fahren: Zu feindselig sind nun die Reaktionen, und sie treffen die zerbrechliche junge Frau tief. Aber sie strafft immer wieder die Schultern und analysiert, messerscharf, den Umgang einer Gesellschaft mit einem Opfer, das sich weigert, zu zerbrechen. Die Überlegungen fließen ins Buch ein. Sie gehören für mich zu den stärksten Passagen.

„Jetzt bin ich frei.“ Nach den langen Gesprächen verstehe ich, warum Natascha Kampusch ihre Geschichte nicht selbst aufschreiben konnte. Das Grauen, die Komplexität ist kaum in Worte zu fassen: Selbst mir, als Zuhörerin, fällt es schwer. Wir arbeiten deshalb zu zweit am Text: Ich in Wien, Heike Gronemeyer in München. Natascha Kampusch liest die Kapitel Satz für Satz, bessert aus, fügt Details hinzu. Als das Buch fertig ist, legt sie den Text auf den Tisch und lächelt. „Jetzt bin ich frei“, ist der letzte Satz darin.

Noch ist es nicht so weit. Natascha Kampusch hat sich eine Aufgabe gestellt und hält sich daran. Sie spricht in den Interviews neuerlich über ihre Vergangenheit. Doch es ist ein neuer Ton darin: Sie hat die Deutungshoheit über ihre Geschichte zurückerobert. Das Buch ist damit auch eine Selbstbehauptung gegenüber einer Gesellschaft, die ihr nicht zugestehen wollte, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen: eine neuerliche Selbstbefreiung. Ich wünsche ihr dabei alles erdenklich Gute.